Karl-Siegbert Rehberg: Editorische Notiz
Die auf zehn Bände berechnete Gesamtausgabe präsentiert ein vielschichtiges Werk, denn weit gestreut waren die Interessen und Arbeitsansätze, auch die Erträge dieses philosophischen und einzelwissenschaftlichen Lebenswerkes, und zwar in dem Sinne, daß Arnold Gehlen (1904–1976) eine Synthese verschiedener Forschungstraditionen und Materialien erreichen wollte. Philosoph, Anthropologe, Soziologe, konservativer Zeitkritiker – das sind Kennzeichnungen für einen Denker, der verschiedene Entstehungsphasen seiner Arbeiten, verschiedene Wissensgebiete verschmelzen wollte zu einer Anthropologie, die mehr leisten sollte als dies eine Fachdisziplin kann: als philosophisch durchgearbeitete, d. h. auf strukturelle Grundbegriffe angelegte wissenschaftliche Fundamentalbemühung um "Kategorien" sollte sie zugleich als Gesellschaftswissenschaft durchgeführt werden, wie auch eine Handlungstheorie begründen. Andererseits – so wendete Arnold Gehlen diese Forderungen – sollten soziologische Studien und polemische, streitbare Skizzierungen gesellschaftlicher Zustände gleichermaßen zurückführbar sein auf die Basiseinsichten dieser Synthesewissenschaft: der Philosophischen Anthropologie.
Verschieden wie die zusammengeführten Interessen sind auch die Entstehungsbedingungen der einzelnen Arbeiten, die Formen der Textverwendung und Anlässe ihrer Formulierung. Zuerst sind da die großen Monographien: Der Mensch, seit 1940 in vierzehn Auflagen erschienen, die "elementare Anthropologie" liefernd. Durch dieses Buch vor allem wurde Gehlen – neben Max Scheler und Helmuth Plessner – zu einem der Hauptautoren der Philosophischen Anthropologie. Dann Urmensch und Spätkultur als Theorie der sozialen Stabilisierungen des Menschen, als Lehre von den Institutionen entworfen. Weiter dann das zeitkritisch eingefärbte, aber auch "kategorial" gedachte späte Buch Moral und Hypermoral und schließlich – nur scheinbar abseits der Hauptlinien des Werkes konzipiert – Zeit-Bilder, eine Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Sodann gibt es eine Fülle von Aufsätzen, Vorträgen, Essays, wissenschaftlichen Studien, Fachbeiträgen und Zeitungsartikeln, die häufig Zusammenfassungen sind, konzise "Abstracts" der Hauptwerke, zum anderen aber auch Vorstudien, "Probierhandlungen" des theoretischen Entwerfens: die Gesamtausgabe will Monographien und diese Studien – wo vom Umfang der einzelnen Bände her möglich – vereinigen, so im Band 5 über Institutionentheorie, dem Band 8 über Sozialregulationen und Band 9 Zeit-Bilder und andere Schriften zur Philosophie und Soziologie der Malerei. Die Bände 1 und 2 sind dem im engeren Sinne philosophischen Werk gewidmet, die Bände 6 und 7 den kulturtheoretischen und zeitkritischen Arbeiten, samt den Deutungen der industriegesellschaftlichen Moderne. Die Streuung der in diesem Werk vereinigten Interessen, Stoffgebiete, Wissenschaftstraditionen und Aspekte spiegelt sich wider in der Zerstreuung der Texte, ihrer schweren Zugänglichkeit – viele wurden gar nicht veröffentlicht, blieben auf den Kreis der Hörer beschränkt, für den sie geschrieben waren (so die vielen Vorträge der letzten Jahrzehnte). Die Gesamtausgabe, alle wichtigen Denkansätze Gehlens, alle Textsorten und thematischen Variationen vereinigend, will ein Werk im Zusammenhang zugänglich machen, dessen einzelne Teile sehr ausdrücklich aufeinander verweisen und das zunehmend aktuell wird, wie nicht zuletzt die wachsende Sekundärliteratur belegt.
Die Arnold Gehlen Gesamtausgabe ist eine textkritische Ausgabe. Jeder Band enthält ein Nachwort des Herausgebers, textgeschichtliche Belege und Zitationsnachweise, den Nachweis von Texteingriffen und eine genaue Angabe der in die Gesamtausgabe nicht aufgenommenen Titel. Die Monographien bieten darüber hinaus Variantenverzeichnisse, so besonders Band 3 (Der Mensch), der – auch mit Hilfe einer rekonstruktiven Konkordanz – den gesamten Text der 1. Auflage wieder zugänglich macht. Die Anmerkungen des Herausgebers geben Zitatnachweise, Texterläuterungen und Textpassagen aus solchen Arbeiten Gehlens, die in die Gesamtausgabe nicht aufgenommen sind. Zitate waren für Gehlen selten Teile einer Beweiskette, meistens jedoch darauf berechnet, argumentative Pointen zu setzen. So schrieb er einmal: "Ich zitiere überhaupt ,taktisch‘, zur Verstärkung bestimmter Gedanken, nicht in der Absicht geistesgeschichtlicher Zusammenhänge." Das führte zu einem großzügigen Umgang mit den – oft aus Notizbüchern, Exzerpten oder aus dem Gedächtnis, nicht selten aus sekundären Texten genommenen – Aussagen anderer Autoren, die häufig nicht detailliert nachgewiesen sind. Der Edition geht es darum, diese Hintergrundstruktur sichtbar zu machen, es dem Leser zu ermöglichen, die Lektüren Gehlens, die Kontexte, aus denen er seine Belege und Bebilderungen nahm, nachvollziehen zu können. Auf diese Weise werden umgekehrt auch Wissenschaftstraditionen sichtbar, in denen diese philosophisch-sozialtheoretischen Analysen stehen.