Abstracts Heft 1/2025
Robert Heim (Frankfurt am Main): Zur Psychoanalyse des Krieges. Betrachtungen aus aktuellem Anlass
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund des Ukraine- und Gaza-Krieges kommentiert der Autor Freuds Schlusspassage in seinem Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Er erörtert zunächst die Maxime, man möge sich auf den Tod einrichten, wenn das Leben ausgehalten werden soll. Der Autor argumentiert, dass diese Maxime mit einem Ethos des gewagten Lebens kontrastiert werden muss, das sich aus dieser Schrift herausfiltern lässt. Es werden klinische Aspekte der Frage diskutiert, was dieses Ethos für die Behandlungsziele bedeuten könnte. In diesem Zusammenhang folgt ein Querbezug auf die Pariser Hegel-Kommentare von Alexandre Kojève. Hier findet sich eine Intersubjektivität des Begehrens, die die relationalen und intersubjektiven Paradigmen der neueren Psychoanalyse kritisch ergänzt. Es geht um den Kampf um Anerkennung eines Selbstwerts, der wiederum mit psychoanalytischen Ansätzen (Narzissmus, Theorie der Depression) begründet werden kann. Aus Kojèves anthropologischer »Urszene« destilliert der Autor das elementare Modell eines »Zweikampfs«, mit dessen Abstraktion sich Konflikte der inneren Realität, aber auch moderne Kriege verstehen lassen. Es sind meist Kriege nach Kränkungen eines kollektiven narzisstischen Selbstwerts, die eine paranoide Eskalationsspirale von Ressentiment, Rache und Vergeltung zur Folge haben. Mustergültig lässt sich diese Folge an Russlands Krieg gegen die Ukraine demonstrieren.
Summary
Against the backdrop of the Ukraine and Gaza wars, the author comments on Freud’s concluding passage in his essay Thoughts for the Times on War and Death. He begins by discussing the maxim that one must prepare for death if life is to be endured. The author argues that this maxim must be contrasted with an ethos of daring life, which can be distilled from Freud’s writing. Clinical aspects of what this ethos might mean for treatment goals are discussed. In this context, the author draws a cross-reference to Alexandre Kojève’s Parisian commentaries on Hegel. Here, an intersubjectivity of desire is found, critically complementing the relational and intersubjective paradigms of recent psychoanalysis. The discussion revolves around the struggle for the recognition of self-worth, which can be grounded in psychoanalytic approaches (narcissism, theory of depression). From Kojève’s anthropological »primal scene« the author distills the basic model of a »duel«, whose abstraction can explain modern wars. These wars are often triggered by injuries to a collective narcissistic self-worth, leading to a paranoid escalation spiral of resentment, revenge, and retaliation. This sequence is exemplified in Russia’s war against Ukraine.
Christina Gesser-Werning (Tübingen): »… Und wenn nun aber der Zaun ein Loch hat …?« Überlegungen zu Wahrheitsbegriffen, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien und Psychoanalyse
Zusammenfassung
Wahrheit ist nicht nur ein zentraler Begriff in der Philosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern auch von großer Bedeutung für unser psychoanalytisches Verständnis und die Weiterentwicklung unserer Wissenschaft.
Die Frage, ob es sich bei Wahrheit – im Sinne von Kants aufklärerischem Denken – um eine Universalie handelt, eine regulative Idee, die das Denken eines autonomen Subjekts leitet, oder ob diese Vorstellung im Zeitalter der Postmoderne »unhaltbar« (Blühdorn, 2024) wird, ist nicht nur theoretisch von großem Belang.
Ein kleiner Gang durch die Geschichte der Entwicklung der Wahrheitsbegriffe soll zeigen, wie eine ›eingehegte‹ Position immer wieder in Frage gestellt wurde, sobald jemand in ihr Ungereimtheiten – die Löcher und Risse im Hag – entdeckte. Die kontroversen Debatten darüber, was wir als wahr erkennen können, führten im Mittelalter bekanntlich zum Universalienstreit, bei dem es zu starken Aufspaltungen und Polarisierungen in der Frage kam, ob es universelle Wahrheit gibt (und ob wir für ihre Erkenntnis einen Gott, ›Erleuchtung‹ oder einen Führer brauchen, der uns diese vermittelt) – oder ob alles eine relative, menschliche Konstruktion ist, allein abhängig von einer internen (Sprach-)Logik, also davon, wie man etwas benennt? Auch wenn uns viele der zugespitzten scholastischen Streitereien und Machtkämpfe von damals heute abstrus erscheinen mögen, ist es interessant zu sehen, wie sich zentrale Grundgedanken in der Debatte über Wahrheit bis heute durchhalten.
Es bleibt eine Grundfrage: Wie werden wir mit den Enttäuschungen fertig, wenn sich eine vermeintlich ›sichere‹ Wahrheit als relativ oder trügerisch erweist? Wie entwickeln wir unsere Wissenschaft in Zeiten möglicherweise zunehmenden himmelschreienden Blödsinns (›bullshit‹) weiter – wie verorten wir uns?
Summary
Truth is not only a central concept in philosophy, epistemology and science, but also of great importance for our psychoanalytic understanding and the further development of our science.
The question of whether truth – in the sense of Kant’s Enlightenment thinking – is a universality, a regulative idea that guides the thinking of an autonomous subject, or whether this idea becomes untenable in the age of post-modernity (Blühdorn, 2024) is not only of great theoretical importance.
A little stroll through the history of the development of the concepts of truth shall show how a »hedged« position has been repeatedly called into question as soon as someone has discovered inconsistencies in it – the holes and cracks in the hedge. The controversial debates over what we can recognise as true led to the Universal Dispute in the Middle Ages, with strong splittings and polarisations over the question whether there exists a universal truth (and whether we need a god, »enlightenment« or a leader to convey it to us) – or whether everything is a relative, human construct, solely dependent on an internal (language) logic, i. e. on how we name something? Even though many of the scholastic controversies and power struggles of that time may seem abstruse to us today, it is of interest to know how central ideas in the debate about truth hold up to this day.
There remains a fundamental question: how do we deal with the disappointments when a supposedly »safe« truth turns out to be relative or deceptive? How do we develop our science further in times of possibly increasing »bullshit« – where do we position ourselves?
Élisabeth Roudinesco (Paris): Zu einem unveröffentlichten Brief Freuds über den Zionismus und die Frage nach den Heiligtümern
Zusammenfassung
Die Autorin kommentiert einen Brief Freuds aus dem Jahr 1930, der hier (im Jahr 2004) erstmals auf Deutsch und in einer Übersetzung von Jacques Le Rider auf Französisch veröffentlicht wurde. Freud äußert sich darin zum Zionismus und bekundet Solidarität mit seinen in Palästina ansässigen jüdischen Mitbürgern, äußert aber auch große Bedenken hinsichtlich des Vorhabens, in dieser Region der Welt einen jüdischen Staat zu gründen. Er befürchtet, dass dies eines Tages zu einem Bruderkrieg zwischen Juden und Arabern um die Hoheit über die heiligen Stätten führen würde. Darüber hinaus weigert er sich, den Verein Keren Hajessod zu unterstützen, da er zwar sein Jüdischsein nicht verleugne, aber dennoch ein Feind aller Religionen, einschließlich des Judentums, sei.
Summary
In this text, Élisabeth Roudinesco comments a letter written by Freud in 1930 and published here (2004) in German and also in French for the first time in a translation by Jacques Le Rider. Freud gives his views on Zionism and while demonstrating his solidarity towards his fellow Jews settled in Palestine he expresses many misgivings on the possibility of a Jewish state being created in this region of the world. Indeed, he fears that this would lead one day to a fratricidal struggle between Jews and Arabs on sovereignty over the holy places. He also refuses to support the Keren Ha Yesod, arguing that while he has not denied his Jewishness, he is nevertheless the enemy of all religions, including Judaism.
Eva Wolfram-Ertl (Wien): Am Anfang war der Blick. Ode an die Psyche
Zusammenfassung
Die Ausstellungen Dalí – Freud. Eine Obsession und Ode To Psyche von Sarah Rapson, gleichzeitig 2022 in Wien gezeigt, präsentierten künstlerische Positionen, die Zugang zum Unbewussten suchten. Durch das unmittelbare Erleben eines Entzugs von Repräsentationen manifestierte sich in Rapsons Soloschau die labile Position des Ich. Dalís surrealistische Malerei warf Fragen nach den verführerisch-narzisstischen Banden des Imaginären auf. Den abweichenden Rezeptionserfahrungen wird durch die Konfrontation mit Lacans Theorie des Blicks nachgegangen.
Summary
The exhibitions Dalí – Freud. An Obsession and Ode To Psyche by Sarah Rapson, shown simultaneously in Vienna in 2022, presented artistic positions that sought access to the unconscious. Through the immediate experience of a withdrawal of representations, the unstable position of the ego manifested itself in Rapson’s solo show. Dalí’s surrealist paintings raised questions about the seductive, narcissistic bonds of the imaginary. The deviating experiences of reception are explored via Lacan’s theory of the gaze.
Greta Lippauer (Wien): Rhythmische (T)Räume
Zusammenfassung
Der Artikel beschäftigt sich mit Freuds dualistischer Triebtheorie als psycho-somatischer Sprachtheorie. Mit Julia Kristevas Begriff der »Ausstoßung (le rejet)« argumentiere ich für eine »Logik der Erneuerung«, die sich in der poetischen Sprache, aber auch in der Rede auf und hinter der Couch über den Rhythmus zu artikulieren vermag.
Summary
The article explores Freud’s dualistic drive theory as a psycho-somatic theory of language. Using Julia Kristeva’s concept of »abjection (le rejet)«, I argue for a »logic of renewal« that can articulate itself through rhythm in poetic language as well as in the discourse on and behind the couch.