Franz Oberlehner (Wien): Vertauschung von Subjektivem und Objektivem als Kern des Narzissmus-Konzeptes
Interchanging the subjective and the objective as the core of the narcissism concept
Zusammenfassung
Wenige psychoanalytische Ausdrücke werden umgangssprachlich so viel verwendet wie Narzissmus – meist in der Bedeutung von » Selbstwertstörung«. Als Freud diesen Begriff in die Psychoanalyse einführte, waren es andere Themen, die er damit klären wollte: unter anderem die homosexuelle Objektwahl, das Verständnis der Schizophrenie, die Entstehung des Ich-Ideals. Als Benennung eines bestimmten Charakter- bzw. Persönlichkeitstyps kam der Ausdruck erst viel später in Verwendung. Es ist daher nicht einfach, all das zusammen zu denken,
was schon Freud in der Einführung in den Begriff hineinpackte und was dann auch noch in den verschiedenen Narzissmustheorien damit bezeichnet wird. Eine mögliche Klammer für das Gemeinsame hinter all diesen Themenkomplexen bietet Freud in seiner Objektbeziehungstheorie aus Triebe und Triebschicksale: Danach beginnt Narzissmus, wenn das autoerotische System nicht mehr perfekt funktioniert, die Mutter nicht immer sofort mit der Befriedigung parat ist. Dieser Außenwelt gegenüber kann der Säugling nicht mehr indifferent er besetzt die befriedigenden Aspekte libidinös und nimmt sie in sein Ich auf, die lustspendenden Qualitäten der Mutter sind nun Teil seiner selbst und werden narzisstisch geliebt, alles Unlustvolle wird aus dem Ich ausgeschieden und projiziert (»purifiziertes Lust-Ich«). Der Beitrag geht von der These aus, dass diese Vertauschung von Subjektivem und Objektivem und die damit zusammenhängende Realitätsverzerrung den Kern des Konzeptes bilden, dem entlang man Narzissmus in allen seinen Varianten am ehesten verstehen kann. Dabei ist auf die Ähnlichkeit mit dem Grundgedanken der projektiven Identifizierung hinzuweisen. Dazu sind mit der narzisstischen Spaltung des purifizierten Lust-Ich unweigerlich Hass und Destruktivität verbunden, zugleich dient Destruktivität als Motor zur Überwindung dieser Spaltung, wie Winnicott herausarbeitet.
Summary
Few psychoanalytic terms are used as much colloquially as narcissism – usually in the sense of ›self-esteem disorder‹. When Freud introduced the term into psychoanalysis, it was other topics he wanted to clarify with it: among others, homosexual object choice, the understanding of schizophrenia, the emergence of the ego ideal. As a designation of a certain character or personality type the expression came into use much later. It is therefore not easy to think together all that Freud already packed into the term in the introduction and what is then
also designated by it in the various narcissism theories. Freud offers a possible bracket for the common behind all these complexes of themes in his object-relations theory from ›Instincts and their Vicissitudes‹: According to this, narcissism begins when the autoerotic system no longer functions perfectly, when the mother is not always immediately ready with satisfaction. The infant can no longer be indifferent to this external world, it cathects the satisfying aspects libidinously and takes them into its ego, the pleasuregiving qualities of the mother are now part of itself and are loved narcissistically, everything unpleasurable is eliminated from the ego and projected (›purified pleasure-ego‹). The article starts from the thesis that this interchange of the subjective and the objective and the related distortion of reality form the core of the Concept along which narcissism in all its variants can best be understood. In this context, the similarity with the basic idea of projective identification should be pointed out. To this end, the narcissistic split of the purified pleasure-ego is inevitably
connected with hate and destructiveness; at the same time, destructiveness serves as a motor for overcoming this split, as Winnicott elaborates.
Moira Atria (Wien): Einbruch einer Auslassung oder vom Wunsch, schmerzliche Widersprüche zu glätten
Intrusion of an omission Or the desire to smooth out painful contradictions
Zusammenfassung
Während eines Besuchs der Ausstellung Dalí – Freud, eine Obsession (Belvedere Wien, 2022) bemerke ich, dass etwas Wesentliches über den Künstler ausgelassen wurde. Das ist umso erstaunlicher, als es eng mit dem Thema der Schau verbunden ist: Dalís Faszination für den Faschismus. Die verführerische Inszenierung einerseits und die fehlende Auseinandersetzung andererseits bilden einen irritierenden Kontrast. Dieser Beitrag versucht, den Moment des Gewahr-Werdens einer Auslassung »einzufangen«. Angenommen wird, dass die Auslassung durch den Wunsch motiviert wurde, das Ideal eines Künstlers aufrechtzuerhalten, ein widerspruchsfreies Bild zu bieten – ein Zug des Narzissmus, der in der konkreten Situation eine gleichsam »ansteckende« Wirkung zeigte. Wie aber sonst umgehen mit Irritation und Widerspruch? Anhand kurzer Beispiele werden Zugänge illustriert, in denen der Widerspruch nicht negiert, sondern aufgenommen wird – u. a. in Simon Atties Fotoinstallationen, in Almodóvars Film Parallele Mütter, in Pablo Jimenez’ persönlich-politischer Reflexion und besonders eindrucksvoll in einem Bekenntnis Loewalds.
Summary
During a visit to the exhibition Dalí – Freud, an Obsession (Belvedere Vienna, 2022), I notice that something essential about the artist has been left out. This is all the more surprising as it is closely linked to the theme of the show: Dalí’s fascination with fascism. The seductive staging on the one hand and the lack of discussion on the other form an irritating contrast. This article attempts to »capture« the moment of becoming aware of an omission. It is assumed that the omission was motivated by the desire to uphold the artist’s ideal of offering an image free of contradictions – a trait of narcissism that had a »contagious« effect in the specific situation. But how else to deal with irritation and contradiction? Brief examples illustrate approaches in which contradiction is not negated, but rather embraced – for example in Simon Attie’s photo installations, in Almodóvar’s film Parallel Mothers, in Pablo Jimenez’s personal-political reflection and particularly impressively in a confession by Loewald.
Wolf Kittler (Santa Barbara):Echo
Zusammenfassung
Der Aufsatz ist eine lange Antwort auf eine einfache Frage: Warum hat die Psychoanalyse so viel zu Narcissus zu sagen, aber so gut wie gar nichts zu der Nymphe Echo, seiner Gegenspielerin? Antwort: Echo, die nie Genannte, ist allgegenwärtig sowohl in der Psychoanlyse Freuds als auch in der Lacans. Sie ist der blinde Fleck der Psychoanalyse. Denn deren Technik besteht ja gerade darin, dem Ich der Analyse die verschlüsselten Botschaften seines Unbewussten noch einmal – und zwar in leicht veränderter Form noch einmal – zu Gehör zu bringen – genauso wie das Echo bei Ovid praktiziert. Narziss aber war zum Schutzpatron der neuen Therapie prädestiniert: Sein Laster, die absolute Weigerung verführt zu werden, ist des Analytikers höchste Tugend. Das mythische Paar kehrt aber auch in Lacans Symptomatologie der drei Hauptsyndrome der Freud’schen Psychoanalyse wieder: Der zerstückelte Körper Echos aus Longus’ Geschichte von Daphnis und Chloe ist die Hysterikerin. Der versteinerte Körper Echos von Ovid ist der Zwangsneurotiker. Und der Paranoiker, der nicht von seinem Spiegelbild ablassen kann, ist Narcissus.
Summary
The essay is a long answer to a simple question: Why does psychoanalysis have so much to say about Narcissus, but almost nothing at all about the nymph Echo, his antagonist? Answer: Echo, although never called by her name, is omnipresent in both Freud’s and Lacan’s psychoanalysis. She is the blind spot of psychoanalysis. For if the analyst’s task consists precisely in making the ego of the analysis hear its own words, the coded messages of its unconscious, once again and in a slightly altered form, then this technique is an echo of Echo’s curse in Ovid’s Metamorphoses. Narcissus, on the other hand, was predestined to be the patron saint of the new therapy: His vice, the absolute refusal to be seduced, is the analyst’s highest virtue. Finally, the mythical pair returns in Lacan’s symptomatology of the three main syndromes of Freudian psychoanalysis: The dismembered body of Echo from Longus’ story of Daphnis and Chloe is the hysteric. The petrified body of Echo from Ovid is the obsessivecompulsive. And the paranoid who is unable to turn away from his image in the mirror is Narcissus
Joseph (Yossi) Triest (Jerusalem):Wenn die Sphinx weint …
When the Sphinx cries …
Zusammenfassung
Die ursprüngliche Absicht dieses Papiers war es, die dialektische Spannung zu untersuchen, die zwischen dem verkörperten Subjekt als ›Individuum‹ und demjenigen in der ›Gruppe als Ganzes‹ besteht. Ich hoffte, diese intuitive Aufteilung zu hinterfragen, indem ich ein neues ›hybrides‹ Subjekt vorstellte, eine Art Zentaur, mit dem Körper eines ›Individuums‹ und dem Kopf einer Gruppe (ich nannte es die ›iGroup‹, mit einem Augenzwinkern zum iPhone – dem Mobiltelefon, das zu einem ihrer innersten Organe wurde). Der mörderische Angriff der Hamas auf Israel, der schreckliche Kriegsverbrechen zur Folge hatte, hat diese ursprüngliche Idee jedoch ›gekapert‹ und mich dazu veranlasst, die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gruppe in der Extremsituation des Krieges zu untersuchen – wenn von den Einzelnen verlangt wird, dass sie ihr Leben freiwillig oder unfreiwillig dem Moloch der Gruppe opfern, die einSpiegelbild einiger unbewusster Aspekte ihrer selbst ist. Die Rolle der unbewussten Sexualität mit ihren beiden Komponenten Eros/Thanatos in diesem Prozess der Subjektkonstituierung aus seinen dialektischen
Wechselbeziehungen mit dem Objekt, soll ein anderes Mal diskutiert werden. Ich werde einige vorläufige Überlegungen anstellen, um zu versuchen, die Welle grausamer und sadistischer mörderischer Gewalt zu verstehen – und auch die Massenmobilisierung von Freiwilligen, die sich bemühen, ihr entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang werde ich therapeutische Prozesse erörtern, die darauf abzielen, die Kräfte von Eros und Thanatos in einem extremen Großgruppensetting neu zu verknüpfen. Der Vortrag wird mit einigen klinischen Vignetten der Erstbehandlung von Überlebenden enden, die als ›Fraktale‹ einertraumatisierten und dezimierten Gemeinschaft gesehen werden, in der mehr als hundert Angehörige ermordet, einige von ihnen vergewaltigt, lebendig verbrannt, entführt und schwer misshandelt wurden.
Summary
This paper’s original intention was to examine the dialectical tension which exists between the subject embodied-in-the-body as an ›individual‹ and the subject embodied-in-the-›group as a whole‹. I hoped to challenge this intuitive split by presenting a new ›hybrid‹ subject, a kind of centaur, with the Body of an ›individual‹ and the head of a group (I called it the ›iGroup‹ with a wink to the iPhone – the cellphone that became one of its innermost organs). However, Hamas’ murderous attack on Israel, which entailed horrific war crimes, ›hijacked‹ this original idea and led me to examine the relationship between the individual and the group in the extreme situation of war – when individuals are required to sacrifice their lives, either voluntarily or involuntarily, to the Moloch of the group – which is a reflection of some unconscious aspects of themselves. The role of unconscious sexuality with its two components Eros/Thanatos in this process of constituting the subject out of its dialectical inter-Relations with the object should be discussed on another occasion. Some preliminary reflections are offered in an attempt to understand the wave of atrocious and sadistic murderous violence – as well as the mass-mobilization of volunteers striving to counteract it. In addressing these, I will discuss therapeutic processes that work to re-weave the forces of Eros and Thanatos
in an extreme large-group settings. The lecture will end with some clinical vignettes of the initial treatment offered to survivors – seen as ›fractals‹ of a traumatized and decimated community, in which more than a hundred loved ones were murdered, some of them, raped, burnt alive, kidnapped and subjected to severe abuse.