Heinrich Brunner (1840-1915) im Spiegel seiner Rechtsgeschichte
2014. X, 364 Seiten. Kt 78,00 €
ISBN 978-3-465-04220-4
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Band 288
Auch als erhältlich
Die Rechtsgeschichtswissenschaft blickt, wie etliche andere Spezialhistoriographien, auf eine erst kurze eigene Fachgeschichte zurück. Natürlich reicht in nahezu allen Ländern Europas das historische Reflektieren auf Recht und seine Tradition bis weit vor 1800. Doch hat die Rechtshistoriographie als eigene, moderne, methodisch vorgehende Wissenschafts-Disziplin im echten Sinne erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Formen angenommen. Für die Erforschung der antiken Welt stand in diesen Jahren als ein dominantes Beispiel rechtshistorischer Gelehrsamkeit bekanntlich Theodor Mommsen vornean. Von größter Bedeutung aber war ebenso die Erschließung der spezifisch deutschen Rechtsvergangenheit, und erster und wichtigster Gelehrter aus den Reihen der sog. deutschen rechtshistorischen Germanistik war der seit 1872 in Berlin lehrende Heinrich Brunner (1840-1915), dessen Denken die vorliegende Studie erschließt.
Über ihn, seine Leistungen und seine Methoden, gibt es bemerkenswerterweise bisher kaum nähere Informationen. Johannes Liebrecht analysiert daher zunächst die Brunnerschen Werke selbst, er schließt dabei deren methodengeschichtliche Kontexte und späteren Wirkungsgeschichten ein. Liebrecht deutet Brunner als Protagonisten der bürgerlich-realistischen Bewegung seit den 1860er Jahren und rekonstruiert seine historischen Methoden und Axiome sowie sein institutionelles Wissenschaftsbild. Zahlreiche private Korrespondenzen werden zur Illustration herangezogen, sie erlauben einen tiefen Einblick in die geistige Welt der Protagonisten jener Zeit und den Kosmos ihres besonders lebhaften und fruchtbaren wissenschaftlichen Diskurses. Zugleich führt das Buch vor Augen, daß und inwiefern deutsche Rechtshistoriker um 1900 davon ausgehen konnten, nicht nur im Ausland gelesen, sondern auch über den eigenen Spezialdiskurs hinaus unter Mediävisten, Diplomatikern, ja sogar unter Dogmatikern des geltenden Rechts gehört zu werden. Die auffallende damalige Stärke gerade rechtshistorischen Wissens nimmt sich insbesondere verwunderlich, fast paradiesisch aus, vergleicht man sie mit der heute prekären Situation und Legitimation der Rechtsgeschichte in ihrem Fakultätsumfeld, die immer wieder zu mehrstimmigen Abgesängen Anlaß gibt.
Die Studie weist zahlreiche Bezüge zu den die damaligen rechtshistorischen Debatten umgebenden Wissensfeldern auf. Ihrer Anlage nach ist sie weniger biographisch geschrieben, sondern verfolgt in erster Linie das Wissenschaftskonzept und Wirken Heinrich Brunners. So ist sie von zentralem Interesse sowohl für die Geschichte von Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung, Mediävistik, Diplomatik und Textgeschichte im besonderen als auch für die Geschichte von Historiographie und Rechtswissenschaften um 1900 im allgemeinen.
Für dieses Buch wurde der Autor auf dem 40. Deutschen Rechtshistorikertag in Tübingen 2014 mit dem Hermann-Conring-Preis ausgezeichnet.