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Wolfram Hogrebe: Tod der Philosophie

Stephen Hawking mag die Philosophie nicht, obwohl er eher als Philosoph denn als Physiker über die Naturwissenschaft redet. Insofern ist seine Todesanzeige der Philosophie genau genommen eine Lebensanzeige. Aber gestehen wir ihm das zu. Was sagt er? Die Philosophie schaffe es heute nicht mehr, mit der Entwicklung der Naturwissenschaft Schritt zu halten. Deshalb sei sie am Ende. Meint er damit die akademische Disziplin, meint er damit die populären Versionen der Philosophie, meint er damit das Projekt der Philosophie überhaupt?

Wir leben und orientieren uns in einem unüberschaubaren Garten sich verzweigender Wissenspfade, die ihre eigene Dynamik haben. Bei manchen Wissenschaften geht es stürmisch voran, bei anderen eher gemächlich, manche verschwinden von der Landkarte. Aber kein Blick auf diese Landkarte ist identisch mit einem Pfad, den sie ausweist. Selbst wenn solche Blicke kein umfassendes und abgeschlossenes Bild liefern können, wir brauchen sie doch, um uns im Raum des Wissens wenigstens im Nahbereich orientieren zu können.

In elementarer Hinsicht ist kein positives Wissen für diese und andere Orientierungsbemühungen privilegiert. Selbst wenn wir unser bestes positives Wissen ‚herunterdimmen‘, bleibt immer noch die Gewißheit, hier vor Ort in einem uninterpretierten Ganzen zu existieren. Und diese Gewißheit ist kein Teil eines Wissens der sich verzweigenden Wissenspfade, sondern ihre Voraussetzung. Mit diesem Hinweis ist die Philosophie aus der Konkurrenz zu den Wissenschaften sofort herausgenommen. Sie ist etwas ganz anderes. Nennen wir sie das formelle Gewissen der Menschheit. Sie bewirtschaftet unsere reflexive Verfassung in den vielfältigen epistemischen Bewährungsarenen, unseres Alltags ebenso wie der Wissenschaften. In diesen Arenen brechen aber Fragen auf, die den Naturwissenschaften grundsätzlich verschlossen sind: normative Fragen nach den commitments, nach unseren Verantwortlichkeiten gegenüber unseresgleichen und der Welt.

Auch die Metapher vom Schritthaltenkönnen ist manchmal irreführend. Natürlich kann auch ein Physiker heute mit den Fortschritten der verschiedenen Sparten geisteswissenschaftlicher Forschung nicht Schritt halten. Was weiß Hawking über die Sabäische Kultur? Ist die Physik deshalb tot? Sicher nicht.

Angenommen, irgendeine Version der Stringtheorie erwiese sich, wie Hawking glaubt, aber nicht weiß, als geeigneter mathematischer Formalismus für eine umfassende physikalische Theorie des Universums. Sei diese mithin eine theory of everything (toe). Ist der theory maker, also der Wissenschaftler folglich auch Teil dieser Universaltheorie? Wohl kaum. Er bleibt ultimativ außerhalb. Daß das in einem objektivierenden Paradigma so sein muß, das ist ein Thema der Philosophie. Ein wieder anderes ist die Frage nach unserer Stellung gegenüber dem, was wir können. Heidegger hat hier die These entwickelt, daß wir gegenüber dem, was wir können, nicht mehr frei sind. Was besagt das? Darüber verrät uns Hawking nichts.

Wieder etwas anderes ist ein Blick auf die gegenwärtige akademische Philosophie. Sie spezialisiert sich in der Tat in verschiedene Diskurse, sie wird in scharfsinniger Weise immer komplexer, aber zugleich ärmer an Gehalt. Und man wird gewiß eine Tendenz schwerlich bestreiten können. Diese besteht darin, daß sich die akademische Philosophie zunehmend anschickt, nur noch Studienräte zur Bewirtschaftung von Argumenten zu erzeugen und zu berufen.

Was ist ein Argument?: Die schlüssige Endform eines Gedankenprozesses. Diese Endformen kann man aufzählen und man ist stolz darauf wie ehedem die Meister der Scholastik, die dennoch besser waren als ihr Ruf. Aber eine betonierte Zentrierung auf Argumente suspendiert das vorargumentative Denken, der kreativen Brennkammer der Philosophie: Wer nichts mehr sieht, wem nichts einfällt, argumentiert nur noch. Das wußte schon Blaise Pascal.        

 

Wolfram Hogrebe war bis zu seiner Emeritierung Professor für Philosophie an der Universität Bonn.

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