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Abstracts Heft 1-2/2020

Redaktionelles Vorwort

Eveline List (Wien): Sándor Ferenczi – ein »freier Radikaler« der Psychoanalyse

Zusammenfassung
Sándor Ferenczi war der wohl engste und vielleicht wichtigste, aber zuletzt auch eigenständigste unter Freuds Schülern/Freunden. Zutiefst politisch denkend und letztlich sozialpsychiatrisch orientiert, stieß er früh zur Psychoanalyse und wurde rasch zu Freuds intimstem Diskussionspartner, der ihn vielfach inspirierte und viele seiner Ideen aufgriff und weiterführte. Stets um klinisches Verstehen bemüht und weniger an institutionellen Fragen interessiert, verfolgte er schließlich auch Überlegungen, die ihn von Freud distanzierten, sein Spätwerk aber wesentlich beeinflussten.

Summary
Sandor Ferenczi was probably the closest and most important and yet most independent among Freud’s students/friends. A deeply political thinker and basically a social-psychiatrist, he was captured by psychoanalysis from early on and soon became Freud’s most intimate partner in research, inspiring him and developing many of his ideas far more consequently. Ferenczi’s primal interest remained clinical understanding, caring much less about institutional matters. Thus he also engaged in research and reflections that consequently distanced him from Freud. But yet, his ideas had a strong posthumous influence upon Freud’s later writings.


Luis J. Martín Cabré (Madrid): Das Konzept der Introjektion und seine Entwicklung in Ferenczis Theorie: Konsequenzen für die psychoanalytische Technik

Zusammenfassung
Ferenczi entwickelte das Konzept der Introjektion sehr bald nach seiner ersten Begegnung mit Freud in seinem ersten rein psychoanalytischen Aufsatz und präzisierte es wenige Jahre danach. Es blieb für sein gesamtes Werk grundlegend. Der Autor beschreibt Genese und Bedeutung dieses Begriffs als Beschreibung eines primärprozesshaften Geschehens und verfolgt seine weitere Entwicklung entlang des gesamten Werks von Sándor Ferenczi.

Summary
Ferenczi created the concept of introjection in his very first truly psychoanalytical essay shortly after his first encounter with Freud and he added some precisions a few years later. It remained fundamental for his theoretical thinking throughout his entire life. The author describes origin and meaning of the term as a primary process activity and outlines its further development along Ferenczis entire work.


Peter Berz (Berlin): Die Einzeller und die lust Bölsche – Freud – Ferenczi

Zusammenfassung
Die Auffassung des ungarischen Psychoanalytikers der ersten Stunde, Sándor Ferenczi, vom psychischen, weil evolutionären Streben der Lebewesen zurück ins Meer (»thalassaler Regressionszug«) und Ferenczis hauptsächliche Berufungsinstanz: Wilhelm Bölsches großes Werk über das Liebesleben in der Natur (1898) werden zum Ausgangspunkt, über Ontogenese und Phylogenese, Psychismus und Evolution nachzudenken. Dabei artikulieren sich unversehens und nahezu wörtlich Jacques Lacans drei  Register des Imaginären – Symbolischen – Realen.

Summary
The view of the first Hungarian psychoanalyst Sándor Ferenczi of the psychic, evolutionary striving of living beings back to the sea (»thalassic regression«) and Ferenczi’s main reference: Wilhelm Bölsche’s great work on Love Life in Nature (1931), become the starting point for thinking about ontogenesis and phylogeny, psychism and evolution. In the process, Jacques Lacan’s three registers of the imaginary – symbolic – real are suddenly and almost literally articulated.


J. Javier Fernández Soriano (Madrid): Thalassa. Ferenczis Versuch einer Genitaltheorie aus Sicht der modernen Biologie

Zusammenfassung
Mit seinem Versuch einer Genitaltheorie wollte Ferenczi eine neue Wissenschaft begründen: die Bioanalyse. Ferenczi widmete diesem Vorhaben zehn Jahre intensiver wissenschaftlicher Arbeit und Reflexion, wobei er sich gleichermaßen auf die Psychoanalyse wie auf Untersuchungen bedeutender Zoologen, Botaniker, Entwicklungsbiologen und Psychozoologen seiner Zeit stützte. Der Autor des vorliegenden Aufsatzes untersucht und diskutiert die wichtigsten Konzepte des Textes im Lichte der aktuellen Biologie. Seiner Ansicht nach können viele von Ferenczis Schlussfolgerungen von der aktuellen Biologie akzeptiert werden, wenn man sich vor Dogmen hütet und angemessene Anpassungen vornimmt. Die bioanalytischen Schlüsse aber, die aus der nicht bewiesenen geologischen Theorie des Eintrocknens der Meere hergeleitet werden, hält der Autor des vorliegenden Artikels für den angreifbarsten Teil von Ferenczis Text.

Summary
Thalassa was an attempt to lay the foundations for a new science: bioanalysis. Ferenczi worked, for ten years, with great scientific capacity and intuition; based on both psychoanalysis and studies of important zoologists, botanists, evolutionary biologists and psychozoologists of the time to try to achieve it. The author, taking as reference the most significant concepts of the text, discusses them in light of current biological findings: He consideres that, if we flee from dogmatisms, many of Ferenczi’s conclusions, with appropriate adaptations, may be acceptable to current biology. On the contrary, he believes that the most contentious part of the text is the bioanalytical conclusions derived from the unproven geological theory of the dessecation of the oceans.


Alba Gasparino und Agustín Genovés (Buenos Aires/Madrid): Die Wende der Zwanzigerjahre  

Zusammenfassung
Die Autoren beschreiben die neuen Konzepte im Zuge der sogenannten »Wende der Zwanzigerjahre« und zeigen, wie Freud und Ferenczi von da an unterschiedliche Wege bezüglich Theorie, Technik und Klinik einschlugen. Diese Unterschiede führten Ferenczi zu neuen Überlegungen hinsichtlich zentraler Themen. Es werden jene Arbeiten detailliert untersucht, die zu wachsender Distanz der beiden Psychoanalytiker und 1932 schließlich fast zum Bruch anlässlich des XII. Kongresses der IPA führten. Dieser hatte seine Ursache in den hier untersuchten Differenzen, welche durch institutionspolitische Konflikte verstärkt wurden.

Summary
The authors outline newly developing concepts during the so called »Turn of the Twenties« describing how Freud and Ferenczi began each to take new paths concerning theory, technique, and clinical practice. These differences lead Ferenczi to new reflections in regard to some topics. Major texts showing the growing estrangement of the two psychoanalysts are being analyzed in detail. Their almost complete fallout in 1932 connected to the XII IPA-congress was aggravated by institutional conflicts.


Raluca Soreanu (Rio de Janeiro/London): Vom Seelenleben der Fragmente Spaltungsprozesse von Ferenczi bis Klein

Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel beginnt mit der Feststellung, dass es eine seltsame »phänomenologische Lücke« in der Psychoanalyse gibt, sobald es um Spaltungsprozesse geht und um die Aufgabe, die »Erscheinungswelt« der psychischen Fragmente zu beschreiben, die aus den Spaltungsprozessen entstehen. Es fehlt uns, einfacher ausgedrückt, oft ein genaueres Verständnis dessen, was gespalten wird und wie die Spaltung vor sich geht. Meiner Ansicht nach wird die Arbeit von Melanie Klein zwar oft herangezogen, wenn von Spaltung die Rede ist (vor allem bei der Diskussion über Identifizierung, Projektion und projektive Identifizierung), aber es gibt dennoch einige bedeutende phänomenologische Unklarheiten in ihrem Theoriegebäude. Ich werde zeigen, dass wir zu einem besseren und vollständigeren Verständnis der psychischen Spaltung und der seelischen Welt der daraus entstehenden Fragmente gelangen, wenn wir einen Dialog zwischen Melanie Klein und Sándor Ferenczi in Szene setzen können. Das ist umso bedeutsamer, als es einige noch nicht ausreichend gewürdigte genealogische Zusammenhänge zwischen den Konzepten von Ferenczi und Klein gibt, die ich hier herausarbeiten möchte. Während wir bei Klein im Bereich von »guten« und »bösen« Objekten bleiben – polarisierten Objekten, die immer wieder gespalten und projiziert werden –, sind wir mit Ferenczis Hilfe in der Lage, auch komplizierte Imitationsformen darzustellen, die psychische Fragmente entstehen lassen und mit einer »dunklen« Seite der  Identifizierung einhergehen, die er »Identifizierung mit dem Aggressor« nennt. Bei dem Versuch, einen Dialog zwischen Klein und Ferenczi zu imaginieren, fällt mir auf, dass es in einem späten Artikel von Melanie Klein, Über die Entwicklung psychischen Funktionierens von 1958, eine Wendung hin zu Ferenczi gibt. Insbesondere möchte ich ein Licht auf ihre Erwähnung von »furchterregenden Gestalten« der Psyche werfen, welche nicht nur als verfolgende Anteile des Über-Ichs betrachtet werden können, sondern eher als rätselhafte und primitive psychische Fragmente verstanden werden sollten, die aus Spaltungsprozessen stammen.

Summary
The present paper starts from the reflection that there is a curious »phenomenological gap« in psychoanalysis when it comes to processes of splitting and to describing the »life« of psychic fragments resulting from processes of splitting. In simpler terms, we are often in a position to lack a precise understanding of what is being split and how the splitting occurs. I argue that although Melanie Klein’s work is often engaged when talking of splitting (particularly through discussions on identification, projection and projective identification), there are some important phenomenological opacities in her construction. I show that by orchestrating a dialogue between Melanie Klein and Sándor Ferenczi, we arrive at a fuller and more substantive conception of psychic splitting and of the psychic life of fragments which are the result of splitting. This is even more meaningful because there are some unacknowledged genealogical connections between Ferenczian concepts and Kleinian concepts, which I here explore. While with Klein we remain in the domain of »good« and »bad« objects – polarised objects which are constantly split and projected – with Ferenczi we are able to also give an account of complicated forms of imitation producing psychic fragments and with a »dark« side of identification, which he calls »identification with the aggressor«. While attempting to take steps toward imagining a dialogue between Klein and Ferenczi, I note a certain silent »Ferenczian turn« in a late text by Melanie Klein, On the Development of Mental Functioning, written in 1958. In particular, I reflect on her reference to some »terrifying figures« of the psyche, which cannot be accounted for simply as the persecutory parts of
the super-ego, but are instead more adequately read as more enigmatic and more primitive psychic fragments, resulting from processes of splitting.


Luis J. Martín Cabré (Madrid): Die traumatolytische Funktion des Traumes

Zusammenfassung
In seiner Entwicklung einer Theorie des Traumas unterzieht Ferenczi auch die Theorie des Traumes einer neuerlichen Reflexion und beschreibt eine doppelte Funktion. Neben der bekannten der Wunscherfüllung nennt er eine zweite, die er als traumatolytisch bezeichnet und die infolge des besonderen Traumzustands unsymbolisierte, dem Bewusstsein nicht zugängliche Inhalte zu repräsentieren sucht. In der analytischen Übertragungsbeziehung können diese Repräsentanzen affektiv einsichtig werden. Der Autor entwickelt Ferenczis Erkenntnisprozess in dessen Auseinandersetzung mit Freud und seinen klinischen Erfahrungen.

Summary
In the course of the development of his theory of trauma Ferenczi undertook a revision of Freud’s dream theory and described a double function of dreaming. Aside of the well known function of wish-fulfillment he detected a second one, which he calls the traumatolytic function. Because of the particular psychic state of dreaming the latter intends to represent content thus far unsymbolised and therefore excluded from consciousness. Within the analytic transference relationship such representations can affectively be brought to life. The author displays Ferenczi’s developing insights in reflecting Freud’s ideas and his clinical experience.


Jacques Press (Genf): Psychosomatische Herausforderungen eines Nahkampfs (corps à corps). Der Blick eines Psychosomatikers auf die Beziehung zwischen Freud und Ferenczi

Zusammenfassung
Der Autor untersucht einige wesentliche Meilensteine von Ferenczis Beiträgen zur Psychosomatik, ausgehend von Introjektion und Übertragung (1909) bis zur Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (1933). Er zeigt, dass diese Entwicklung untrennbar mit den Wechselfällen der Beziehung zwischen Ferenczi und Freud verbunden ist. Schließlich formuliert er auf der Grundlage seiner klinischen Arbeit die Hypothese, dass Ferenczis latente homosexuelle Verbindung zu Freud eine frühe Problematik in der Beziehung mit dem primären Objekt vernäht haben könnte. Die Verschlechterung ihrer Beziehung hätte dann eine Schwächung dieser Naht bedeuten können und zu Ferenczis psychosomatischem Zusammenbruch beigetragen haben.

Summary
The author examines some of the major milestones of Ferenczi’s contributions to psychosomatics, from Introjection and Transference (1909) to Language Confusion between Adults and Children (1933). He shows that this development is inextricably linked to the vicissitudes of the relationship between Ferenczi and Freud. Finally, on the basis of his clinical work, he formulates the hypothesis that Ferenczi’s latent homosexual connection to Freud may have sewn up an early problem in the relationship with the primary object. The deterioration of their relationship could then have weakened this suture and contributed to Ferenczi’s psychosomatic breakdown.


Valérie Bouville (Bonn): Schweigen zwischen Schuld und Trauma

Zusammenfassung
Der Aufsatz handelt vom Schweigen, das einer Tat oder einem Trauma folgt, von seinen Gründen und den Auswirkungen auf die Nachkommen der ursprünglich Betroffenen. Anhand der analytischen Behandlung des Enkels eines vermeintlichen Täters aus dem Zweiten Weltkrieg und der analytischen Behandlung der erwachsenen Tochter eines Kriegsflüchtlings zeigt die Autorin ihren analytischen Weg von den Symptomen und der Übertragung-Gegenübertragungs-Dynamik hin zu den hintergründigen  Entwicklungsstörungen, die das Schweigen als Ausdruck einer vermiedenen Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen zur Folge hat.

Summary
The paper deals with the silence that follows an act or trauma, its reasons and the effects on the descendants of those originally affected. Using the analytical treatment of the grandson of an alleged perpetrator from the Second World War and the analytical treatment of the adult daughter of a war refugee, the author shows her analytical path from the symptoms and the transmission/countertransmission dynamics to the underlying developmental disturbances that silence causes as an expression of an avoided confrontation with feelings of guilt.


Daniel Bischof (Zürich): Repräsentanzen und Traumerleben

Zusammenfassung
Die Repräsentanz ist eine Verdichtung von verschiedenen Elementen wie Triebimpuls, Interpersonalität und idiosynkratischen Wahrnehmungs- und Erlebensformen sowie gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren. Sie bildet sich in einem allmählichen Prozess vom einfachen Sinneseindruck zum komplexen Gedanken. Dabei steht am Anfang eine eher magisch-faktische Form im Mittelpunkt, die sich allmählich in eine symbolisch-abstrakte Welt ergiesst. Es werden zwei Umschreibungen im Laufe dieser Entwicklung beschrieben: die eine ist diejenige der Bildgebung, die andere die der Symbolisierung. In der analytischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Ausformungsgraden dieser Entwicklung geht es weniger um eine normative Deutungshoheit des Analytikers, sondern mehr um das subjektive Erleben des Analysanden: Was drückt er oder sie mit ihrer je eigenen Form der seelischen Abbildung eigentlich aus? Dabei geht es nicht so sehr darum, sie in Form einer Zielsetzung zu normieren, sondern sie als subjektiven Entwurf zu eruieren. Die Welt der Repräsentanzen ist Ausdruck dieses Entwurfs. Die wertungsfreie Auseinandersetzung damit erscheint auf diese Weise als Voraussetzung für die Entwicklung einer fruchtbaren analytischen Arbeit. Inhalt und Struktur einer Repräsentanz werden im Traumleben deutlich. Anhand von vier klinischen Beispielen wird gezeigt, wie unterschiedlich sich Repräsentanzen im Traum und vor allem auch in der analytischen Auseinandersetzung zeigen können.

Summary
Psychical representative is a condensation of different elements like impulses of the drive, interpersonality, idiosyncratic ways of apperception and experiencing as well as social and cultural factors. It is formed in a gradual process starting with simple impressions of the different senses to complex formations of thoughts. In the beginning the main nature of functioning is on a magicalfactual level, which turns into a more symbolic-abstract mode if things work well. There are two main reformulations during development being described in the text: one is imaging, the other symbolisation. Analysing different characteristics of such a formation does not so much deal with normative patterns but rather with subjective forms of experiencing: What is the analytic patient expressing with his special form of representative? It is not intended to reach a defined form but to elicit his special form of psychic functioning. The world of the representatives is an expression of such a form. Non-judgemental examination is a prerequisite of constructive analytic work. Contents and structure are becoming evident especially in dreaming. It will be shown on the basis of four clinical examples to what degree representatives differ in dreams and in the ensuing analytic work being done.