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Abstracts Heft 1/2018

Redaktionelles Vorwort

Robert Heim: »Starke Dichter« nach Freud: Melanie Klein, Jacques Lacan. Ein wissenschaftshistorisches Modell für die Psychoanalyse

Zusammenfassung
Der Autor thematisiert die Frage, wie sich folgenreiche »wissenschaftliche Revolutionen« in der Geschichte der Psychoanalyse ereignen können. Dafür nimmt er ein Modell des Literaturtheoretikers Harold Bloom in Anspruch: Für ihn sind es sogenannte »starke Dichter«, die den Formenkanon und die poetische Expressivität der Dichtungstradition in einem Akt der kreativen Neuschöpfung bereichern. Aufgrund ihrer Nähe zur Dichtung und ihrer Einsicht in die unbewusste Metaphernbildung macht der Autor dieses Modell für die Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse geltend. Der »starke Dichter« im Sinne Blooms leidet unter »Einflussangst« und schöpft aus der Abwehr dieser Angst ein Werk von wirkungsgeschichtlicher Bedeutung. In der Geschichte der Psychoanalyse nach Freud porträtiert der Autor Melanie Klein und Jacques Lacan als zwei einflussreiche Gestalten, die prägnant die Züge des »starken Dichters« tragen.

Summary
The author addresses the question how serious »scientific revolutions« can occur in the history of psychoanalysis. He refers to a model of the Yale literary scholar Harold Bloom: For him, so-called »strong poets« enrich the canon of form and poetical expressiveness in an act of innovative »misreading« creation. Due to its proximity to poetry and its insights in the process of unconscious metaphors, the author applies this model to the history of science in psychoanalysis. The »strong poet« in the meaning of Bloom suffers from an »anxiety of influence« and draws from the defence of this deep anxiety his works of impactful meaning. In the history of psychoanalysis after Freud, the author sketches Melanie Klein and Jacques Lacan as two influential figures who most closely display the features of »strong poets«.

 

Giovanni Vassalli: Epistemologische Grundzüge der Psychoanalyse im Vergleich mit der neuzeitlichen Wissenschaft

Zusammenfassung
Der Aufsatz ist aus dem Bestreben entstanden, die oft zu beobachtenden Verwischungen zwischen der Psychoanalyse und der Wissenschaft zu klären. Während die heutige, auf Evidenz beruhende Wissenschaft ihre Legitimität im Laufe der Neuzeit durch die Mathematik und ihre exakten Berechnungen erworben hat, geht die Psychoanalyse auf einen artisanalen Ursprung zurück und ist dementsprechend von Freud als Technik bezeichnet worden. Dieser Begriff hat für ihn die Bedeutung eines Kunsthandwerks erhalten, wie sie in der griechischen téchnê-Tradition bekannt war. In ihrer sprachlichen Ausbildung wurde sie biszum Beginn der Neuzeit durch die aristotelische Rhetorik vertreten. Als im 20. Jahrhundert die Psychoanalyse geschaffen wurde, ist diese in der neuzeitlichen Kultur verständlicherweise als eine unzeitgemässe Erscheinung empfunden worden. Dies vor allem deshalb, weil sie als Erforschung des Unbewussten nicht einem rationalen, sondern einem vermutenden, konjekturalen Vernunftbegriff folgen musste. Einige ihrer Positionen versucht nun dieser Aufsatz hervorzuheben und der »evidence based science« gegenüber zu stellen. Dadurch soll die originelle, epistemologische Achse der Psychoanalyse ein deutlicheres Profil bekommen. Die Diskussion über das Verhältnis von Psychoanalyse und
Wissenschaft steckt aber auf beiden Seiten immer noch in den Anfängen.

Summary
The essay was born out of an effort to clarify the often observed blurring between psychoanalysis and science. While today’s evidence-based science has acquired its legitimacy in modern times through mathematics and its exact calculations, psychoanalysis goes back to an artisanal origin and has accordingly been described by Freud as a technique. This term has received for him the importance of a handicraft, as it was known in the Greek téchnê-tradition. In its linguistical formation it was represented by the Aristotelian rhetoric until the beginning of modern times. When psychoanalysis was created in the 20th century, it has understandably been perceived as a phenomenon out of time in modern culture. This is above all because, as an exploration of the unconscious, it had to follow not a rational but a presumptive, conjectural concept of reason. Some of these positions now try to highlight this essay and to contrast the »evidence based science«. This should give the original, epistemological axis of psychoanalysis a clearer profile. But the discussion about the relationship between psychoanalysis and science is still in its infancy on both sides.

 

Erwin Kaiser: Von der Angst zur Methode – und zurück. Drei Arten von psychoanalytischem Wissen

Zusammenfassung
Der Autor sieht eine zunehmende Verwirrung in der psychoanalytischen Gemeinschaft bezüglich der Natur psychoanalytischen Wissens und der entsprechenden Forschungsmethodik. Ausgehend von Wallersteins (2009) Artikel in diesem Journal zeigt der Autor, dass die einheitswissenschaftliche Forschung, wie Wallerstein sie propagiert, (1) zu fragmentierten und wirklichkeitsfremden Mini-Theorien geführt hat und (2) für die psychoanalytische Praxis völlig irrelevant ist. Es werden die epistemologischen Gründe für dieses Problem diskutiert, und es werden Gründe genannt, weswegen diese Art von Forschung niemals zu einem Zugewinn an psychoanalytischem Wissen führen kann. Ausgehend von einem epistemologisch anderen Ansatz, dem der sprachanalytischen Philosophie von Donald Davidson, wird gezeigt, dass sich die Probleme der einheitswissenaftlichen Forschung aus dieser Perspektive erklären lassen. Es wird eine alternative Form von Handlungserklärungen, wie sie in Deutungen verwendet werden, vorgeschlagen und es wird gezeigt, dass diese Form mit psychoanalytischen Theorien und psychoanalytischem Wissen kompatibel ist. Am Schluss werden drei Formen von psychoanalytischem Wissen unterschieden: (1) das Gesetzes-Wissen, wie es Wallerstein vorschwebt und das seit über 100 Jahren nur als Programm existiert, (2) Effizienz-Wissen, wie es in Gruppen-Untersuchungen der Wirksamkeit von Psychotherapie erzeugt wird, das aber im Behandlungsraum mit einem einzelnen Patienten nicht hilft, und (3) psychoanalytisches Wissen im engeren Sinn, wie es im Behandlungsraum entwickelt und angewandt wird. Es wird versichert, dass die Vermengung dieser drei Arten von Wissen der Psychoanalyse als Theorie und als Therapie schadet.

Summary
The author registers a growing confusion in the psychoanalytic community about the nature of psychoanalytic knowledge and the appropriate kind of research. Taking Wallerstein’s (2009) paper as a starting point the author claims that the application of unified science research methodology Wallerstein proposes (1) has empirically proven to lead to fragmented and isolated minitheories which are (2) irrelevant in the consulting room and (3) that from the perspective of analytic philosophy there are epistemological doubts that this kind of research will ever find »general laws«. Alternatively the author proposes to conceive of psychoanalytic theory not as a kind of science according to the model of the unified science but as an expansion of the every day template of the explanation of action by reference to belief and desire. The ideas of the philosopher Donald Davidson are used as an epistemological reference point. The author proposes to clearly differentiate between unified science research to generate general laws, research aimed at proving the efficiency of psychoanalysis, and the search for psychoanalytic knowledge proper analysts make use of in the consulting room.

 

René Roussillon: Die Psychoanalyse des Narzissmus und die unvermeidlich »postmoderne« Psychoanalyse

Zusammenfassung
Die postmoderne Psychoanalyse ist mit einer unvermeidlichen Vielfalt von Positionen konfrontiert, die von jenen »Theorien« abhängen, die sich die Analytiker von den »Bedürfnissen« ihrer Patienten aus deren Frühzeit zurechtgelegt haben. Dieser postmoderne Standpunkt ist wenig komfortabel, weil die Deutungstechnik sich heute nicht mehr zurücklehnen kann an Modelle, die für die klassiche Analyse von Neurosen galten. Da konnte der Patient als getrenntes Wesen mit eigener Identität gelten, der in gewisser Weise das Deutungsangebot des Analytikers verwerten, auswählen, gegensteuern und auch nein sagen konnte. Bei den heutigen narzisstisch-identitären Störungen jedoch wird die abwartend deutende Haltung des Analytikers obsolet, da ein solcher Patient angewiesen ist auf identitäre Abstützung und sich dazu jedwede Regung des Analytikers aneignet oder sich eben ganz einfriert. Der Autor schlägt einen »exploratorischen« Stil vor, der an der Oberfläche arbeitet, und appeliert an die Kreativität des Analytikers, im Wissen, dass keine Theorie, obwohl sie der Komplexität des Lebendigen Rechnung tragen muß, eben dieser Komplexität ganz gerecht werden kann.

Summary
Postmodern psychoanalysis is confronted with an unavoidable variety of positions that depend on those »theories« that analysts have prepared for the »needs« of their patients from their earliest days. This postmodern viewpoint is not very comfortable because the interpretation technique today can no longer lean back on models that were used for the classical analysis of neuroses. There the patient could be regarded as a separate being with his own identity, who in a certain way could utilize, select, counteract the interpretive offer of the analyst and also say no. In today’s narcissistic-identity disorders, however, the analyst’s waitand-see attitude becomes obsolete, since such a patient is dependent on identity support and appropriates any movement of the analyst or freezes himself altogether. The author proposes an »exploratory« style that works on the surface and appeals to the analyst’s creativity, knowing that no theory, while accounting for the complexity of the living, can do justice to this complexity.

 

Gerhard Dammann: Einige Überlegungen zu René Roussillon und einer von Pluralität gekennzeichneten, spätmodernen Psychoanalyse

Zusammenfassung
Der französische Psychoanalytiker René Roussillon hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Texten, die breite Resonanz in der internationalen psychoanalytischen Welt erhielten, mit der Frage der Pluralität in der heutigen Psychoanalyse befasst. In sehr komplexen Essays, die sich auf eine Fülle von ideengeschichtlichen Bezugspunkten stützen, die aber teilweise nicht direkt genannt werden, entwirft Roussillon sein Modell einer tragfähigen, pluralistischen spät- bzw. postmodernen Psychoanalyse, die von Klammern gehalten wird und sich nicht in Beliebigkeit oder patientenfernen Theoriediskussionen verliert. Sein wichtigster Gewährsmann bleibt dabei Freud, auf dessen Narzissmus-Konzept Roussillon sich unter anderem beruft. In der vorliegenden Arbeit werden die wichtigsten Überlegungen Roussillons zusammengefasst, einige psychoanalysegeschichtliche, insbesondere französische Wurzeln beleuchtet und einzelne Aspekte seines Vorschlags kritisch diskutiert und mit eigenen Überlegungen ergänzt.

Summary
The French psychoanalyst René Roussillon has addressed the issue of plurality in today’s psychoanalysis in various texts that have received wide response in the international psychoanalytic world in recent years. In very complex essays, which are based on a wealth of ideological points of reference, but which are sometimes not directly mentioned, Roussillon designs his model of a viable, pluralistic late or postmodern psychoanalysis, which is held by parentheses and does not turn into arbitrariness or theory discussions faraway from patients’ reality. His most important informant remains Freud, whose concept of narcissism Roussillon invokes, among other topics. In this work, Roussillon’s main ideas are summarized, some aspects of psychoanalysis, especially French roots, are discussed, and some aspects of his proposal are critically discussed and nourished with his own considerations.