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Abstracts Heft 2/2021

Redaktionelles Vorwort

Glen O. Gabbard (Houston): Die »Drachen der Urzeit«. Die Beendigung der Analyse und die Beharrlichkeit des Infantilen

Zusammenfassung
Entsetzt über eine Analyse, die auch nach 18 Jahren nicht enden konnte, hat sich der Autor, damals noch Kandidat, gefragt, welche Rolle der kindliche Trotz dabei spielen könnte. Seitdem untersucht er die Faktoren des Infantilen, die das Ende der Analyse verhindern, ja verunmöglichen: Eine Definition des Analyseendes etwa als Sieg über das Infantile – was viele Patienten sich erhoffen – erweist sich als nicht brauchbar, da die Drachen der Urzeit mit dem Analyseende nicht aussterben. So erklärt er sich auch das Zögern Freuds, das Ende der Analyse genauer zu definieren. Ressentiment und Allmachtsfantasien machen die Analyse unendlich – es geht in solchen Fällen beiden Seiten des analytischen Paares gut, solange es eben weitergeht. Kaum droht das Ende, sind die Drachen da: Der Analysand kann nicht gehen, der Analytiker ihn nicht ziehen lassen. Das bedeutet, beide Seiten müssen mit den Drachen der Urzeit – rechnen, nicht sie zum Verschwinden bringen.

Summary
Horrified by an analysis that could not end even after 18 years, the author, then still a candidate, asked himself what role infantile defiance could play. Since then, he has been investigating the factors of the infantile that prevent, even make impossible, the end of the analysis: A definition of the end of analysis, for example, as a victory over the infantile – which many patients hope for – proves to be useless, since the dragons of primeval times do not die out with the end of analysis. This also explains Freud’s hesitation to define the end of analysis more precisely. Resentment and fantasies of omnipotence make analysis infinite – in such cases, both sides of the analytic couple are fine as long as it continues. As soon as the end threatens, the dragons are there: the analysand cannot leave, the analyst cannot let him go. This means that both sides have to reckon with the dragons of primeval times – not make them disappear.

 

Bernardo Tanis (São Paulo): Das Infantile: Seine vielfältigen Dimensionen

Zusammenfassung
Ziel dieses Textes ist es, die grundlegende Bedeutung des Infantilen für die psychoanalytische Theorie und Praxis darzustellen. Das Infantile kann in der psychoanalytischen Erfahrung als vorrangiger (princeps) Ausdruck der psychischen Realität, der unbewussten Dimension menschlicher Subjektivität verstanden werden. Das Infantile betrifft nicht nur den Kinderanalytiker, da es nicht mit der Kindheit oder den Entwicklungsphasen gleichzusetzen ist. Anders als ein infantiles Verhalten gehorcht das Infantile einer kausalen, nichtlinearen Überdeterminiertheit, offen für Zufall und Ungewissheit. Weit entfernt von fotografischer Erinnerung an Vergangenes oder von kindlichen Verhaltensweisen des Erwachsenen verweist das Infantile auf die Art der Registrierung und Inschrift dessen, was Freud Erlebnis nannte, als »Kindheitserlebnisse« bezeichnete. Die Kernthese lautet, dass in der klinischen Psychoanalyse und unabhängig von den Präferenzen für dieses oder jenes theoretisch-klinische Modell für das Subjekt immer die Wirksamkeit dieser Inschriften, ihre Metabolisierung und Symbolisierung, ob möglich oder nicht, und ihre im Gegenwärtigen lebendige Triebkraft eine Rolle spielen werden. Das Infantile taucht nicht nur als Widerstand oder als Zeuge der verdrängten infantilen Sexualität auf, sondern auch als aktueller und lebendiger Vertreter der Suche nach einer kreativen und wiedergutmachenden Erfahrung (Neogenese) dessen, was nicht als Kontinuität des Seins erfahren werden konnte, als potenzieller Ausdruck, als kreativer Impuls, der aufgrund der Unfähigkeit oder Unzulänglichkeit des primären Objekts unterdrückt oder abgespalten werden musste. Die Beziehung zum Infantilen zu transformieren, bedeutet nicht, sie zu beseitigen, sondern eine Neuordnung zu ermöglichen, eine Neu-Bedeutung, damit etwas Neues kommen kann. Als Quelle von Desillusionierung oder Inspiration wird es niemals aufhören, eine Referenz zu sein.

Summary
The aim of this text is to present the fundamental significance of the infantile for psychoanalytic theory and practice. The infantile can be understood in psychoanalytic experience as the primary (princeps) expression of psychic reality, the unconscious dimension of human subjectivity. The infantile does not only concern the child analyst, as it cannot be equated with childhood or the stages of development. Unlike infantile behaviour, the infantile obeys a causal, nonlinear overdeterminacy, open to chance and uncertainty. Far from photographic memory of the past or childlike adult behaviour, the infantile refers to the way of registering and inscribing what Freud called experience, called »childhood experiences«. The core thesis is that in clinical psychoanalysis, and regardless of preferences for this or that theoretical-clinical model for the subject, the efficacy of these inscriptions, their metabolisation and symbolisation, whether possible or not, and their driving force alive in the present will always matter. The infantile emerges not only as a resistance or as a witness to repressed infantile sexuality, but also as an actual and living representative of the search for a creative and reparative experience (neogenesis) of what could not be experienced as the continuity of being, as a potential expression, as a creative impulse that had to be repressed or split off due to the incapacity or inadequacy of the primary object. To transform the relationship to the infantile is not to eliminate it, but to allow a reordering, a re-meaning, so that something new can come. As a source of disillusionment or inspiration, it will never cease to be a reference.

 

René Roussillon (Lyon): Primäres Trauma, Spaltung und primäre, nichtsymbolische Bindung

Zusammenfassung
Der Autor gibt in dieser Arbeit, dem nachträglich verfassten 1. Kapitel seines 1999 erschienenen Werkes Agonie, clivage et symbolisation, einen Überblick über sein Gesamtmodell, das detailliert in den nachfolgenden Kapiteln ausgeführt wird. Er grenzt hierbei die um die Verdrängung zentrierten neurotischen Strukturen von den Bildern narzisstisch-identitärer Störungen mit ihrer paradoxen Übertragungssituation und den primären Traumatisierungen mit agonistischen Erfahrungen ab, welche eine spezifische Abwehr zur Folge haben. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor den Abwehrformen der Ich-Spaltung, der primären nichtsymbolischen Bindung, der energetischen Neutralisierung, der Sexualisierung, der somatischen Bindung, den gruppalen und institutionellen sowie den wahnhaften oder psychotischen »Lösungen«, die jeweils das klinische Bild bestimmen, deren Hintergrund Roussillon in der primären Traumatisierung erkennt.

Summary
In this work, the subsequently written first chapter of his 1999 work Agonie, clivage et symbolisation, the author gives an overview of his overall model, which is elaborated in detail in the following chapters. He distinguishes the neurotic structures centred around repression from the images of narcissistic-identitarian disorders with their paradoxical transference situation and the primary traumatisation with agonistic experiences, which result in a specific defence. The author pays special attention to the forms of defence of the ego splitting, primary non-symbolic binding, energetic neutralisation, sexualisation, somatic binding, group and institutional, as well as delusional or psychotic »solutions«, each of which determine the clinical picture whose background Roussillon recognises in the primary traumatisation.

 

Daniel Bischof (Zürich): Die freie Assoziation – Spielball zwischen interrogativer und phobischer Position

Zusammenfassung
Der Text geht von der Auffassung aus, dass die freie Assoziation eine ubiquitäre Eigenschaft des menschlichen Geistes ist. Sie wird gestützt von Freuds Modell im Entwurf einer Psychologie (Freud, 1950c, 387–477), Christopher Bollas’ Aussage zur Allgegenwärtigkeit der freien Assoziation und André Greens Gedanken zur Homologie von Nebenbesetzung und primärem Wunsch. Die freie Assoziation ist somit nicht Resultat, sondern Arbeitsgrundlage der psychoanalytischen Arbeit. Die Frage ist, ob sich die freie Assoziation auf der psychischen Ebene fortsetzen kann (interrogative Position) oder ob sie abgewehrt werden muss (phobische Position). Die Frage ist auch, ob es dem analytischen Paar gelingt, diesem Prozess auf die Spur zu kommen. Voraussetzung dazu ist die Fähigkeit der Analytikerin, selbst einen Zugang zu ihren Assoziationen gefunden zu haben (gleichschwebende Aufmerksamkeit). Ferner ist die Bereitschaft des Analysanden zentral, um die Bedeutung seiner Einfälle zu ringen. Und schliesslich kann die analytische Arbeit nur dann zielführend sein, wenn sowohl Analytikerin als auch Analysand den Reaktionen, Befindlichkeiten und Phantasien des andern zu folgen bereit sind. Im Text wird eine besondere Bedeutung den sogenannten Überlauf-Phänomenen (débordement) eingeräumt, einer Situation, in der die psychischen Prozesse nicht mehr auf der psychischen Ebene gehalten werden können und auf eine somatische oder Verhaltensebene »überlaufen«. In einem Fallbeispiel wird der Oszillation zwischen psychischer und somatischer Reaktion anhand des Stotterns nachgegangen.

Summary
The text is based on the view that free association is an ubiquitous quality of the human mind. It is supported by Freud’s model in A Project for a Scientific Psychology, Christopher Bollas’ statement on the omnipresence of free association and André Green’s thoughts on the homology of secondary occupation and primary desire. Free association is thus not the result of psychoanalytic work, but rather the basis of its work. The question is whether free association can continue on the psychic level (interrogative position) or whether it must be fended off (phobic position). The question is also whether the analytical couple succeeds in tracing this process. A prerequisite for this is the analyst’s ability to engage in an evenly suspended attention. Furthermore, the analysand’s willingness to struggle with the meaning of her ideas is central. Finally, analytical work can only be effective if both, analyst and analysand, are prepared to follow the reactions, sensitivities and fantasies of the other. In the text, special importance is given to the so-called »débordement« (overflow), a situation where mental processes can no longer be kept on a mental level and »overflow« into a somatic or behavioural sphere. In a case study, the oscillation between mental and somatic reaction is investigated on the basis of stuttering.