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Abstracts Heft 2/2022

Redaktionelles Vorwort

Adela Abella (Genf): Der Analytiker und sein Verhältnis zur Theorie

Zusammenfassung
Der in diesem Artikel vertretene Standpunkt schlägt vor, analytische Theorien als Objekte zu betrachten, die sowohl extern sind, geteilt werden und ihre historische Entwicklung unabhängig vom Subjekt haben, als auch intern sind, in eine bestimmte Psyche eingebettet sind und durch diese Einbettung verändert werden. Dies betrifft sowohl die Art und Weise, wie der Analytiker seine Identität aufbaut, als auch die Art und Weise, wie er mit anderen Analytikern in Beziehung tritt.

Summary
The position taken in this article proposes to view analytic theories as objects that are both external, shared and having their historical development independent of the subject, and internal, embedded in a particular psyche and changed by that embeddedness. This affects both the way the analyst constructs his identity and the way he relates to other analysts.


Dietmut Niedecken (Hamburg): Psychosexualität und Denken

Zusammenfassung
Die Autorin stellt sich in diesem Aufsatz die Frage, warum Psychosexualität immer noch als ein Stolperstein für die Akzeptanz der Psychoanalyse wirken kann. Der Grundgedanke des psychoanalytischen Begriffs der Psychosexualität besteht nicht, wie es das Vorurteil will, darin, alle menschlichen Erfahrungen unter der Idee einer Pansexualität zu subsumieren. Er ist jedoch geeignet zu zeigen, dass die sexuelle Identität des Individuums all seinen Interaktionen mit der Außenwelt – seien sie sexueller Natur oder nicht – zugrunde liegt. Um dies zeigen zu können, werden drei Autoren referiert, die sich aus je unterschiedlicher Perspektive dem Thema der menschlichen Psychosexualität zuwenden: Zunächst Jean Laplanche mit seiner Theorie von der »rätselhaften Botschaft«, die vom Erwachsenen an das Kind und von diesem zur kindlichen Sexualität verarbeitet wird (Laplanche); sodann Überlegungen von Joseph Triest über Psychosexualität als Scheitelpunkt eines Pendels aus Selbstbezug und Objektbezug, die sich gegenseitig verneinend in einer dialektischen Bewegung die Matrix des subjektiven Erlebens ausbilden (Triest); und schließlich verhaltensbiologische Überlegungen von Harold Lincke: biologisch vorbestimmte Instinktanlagen geraten aufgrund eines »Risses« zwischen den körperlichen und den psychischen Reifeprozessen in Gegensatz zu ebenfalls biologisch angelegten Hemmungen, und müssen daher über introjektive Prozesse in die geistige Dimension der menschlichen Psychosexualität transformiert werden. Anhand von Vignetten, im Lichte dieser Perspektiven betrachtet, kann gezeigt werden, dass überall dort, wo es ein erlebendes und denkendes Ich gibt, die sexuelle Identität eine Rolle spielt. Diese Interdependenz des Denkens und unseres physischen In-der-Welt-Seins sorgt für eine unauflösbare Verbindung zwischen dem Prozess des Denkens und dem Gegenstand unseres Denkens, und steht damit der Autonomie des Denkens von seinem Inhalt, dem Denken in der Dritten Position entgegen. Die Dritte Position wird durch ihre Begründung in der psychosexuellen Entwicklung in Frage gestellt. Dies könnte für den anhaltenden Widerstand gegen die psychoanalytische Theorie der Psychosexualität, für ihre »Undenkbarkeit«, verantwortlich sein.

Summary
In this essay, the author poses the question of why psychosexuality can still act as a stumbling block to the acceptance of psychoanalysis. The basic idea of the psychoanalytic concept of psychosexuality is not, as the prejudice would have it, to subsume all human experience under the idea of pansexuality. It is, however, capable of showing how the sexual identity of the individual underlies all his interactions with the external world, whether sexual in nature or not. In order to illustrate this three authors are referred to, each approaching the subject of human psychosexuality from a different perspective: First, Jean Laplanche with his theory of the »enigmatic message« that is processed by the adult to the child and by the child to infantile sexuality; then, reflections by Joseph Triest on psychosexuality as the vertex of a pendulum between self-reference and object-reference, which, negating each other in a dialectical movement, form the matrix of subjective experience; and finally, behavioralbiological reflections by Harold Lincke: Biologically predetermined instinctual dispositions, due to a »rift« between the bodily and the psychic processes of maturation, come into opposition with matching biological inhibitions, and must therefore be transformed into the spiritual dimension of human psychosexuality via introjective processes. By means of vignettes, considered in the light of these perspectives, it can be shown that wherever there is an experiencing and thinking self, sexual identity plays a role. This interdependence of thinking and our physical being-in-the-world provides an indissoluble link between the process of thinking and the object of our thinking, and thus opposes the autonomy of thinking from its content. The Third Position is challenged by its grounding in psychosexual development. This may account for the continuing resistance to the psychoanalytic theory of psychosexuality, for its »unthinkability«.


Julia Kristeva (Paris): Der psychoanalytische Ort

Zusammenfassung
Die Autorin situiert den psychoanalytischen Ort in Jerusalem, dem Ort des Kongersses: Wer sich auf die Psychoanalyse einlässt, verlässt niemals Jerusalem. Denn Freud habe das jüdische Verständnis der menschlichen Grundsituation als eine der Entwurzelung auf die Psychoanalyse übertragen. Die nie endende Bewegung von Aufbruch, Exil und Rückkehr, die selbst bereits wieder ein Aufbruch ist, sieht sie in der analytischen Situation verwirklicht. Aufbruch aus dem Gewohnten hin zum Fremden seiner selbst, den Rückzug verlassen in einer Bewegung hin zum andern seien die zentralen Anforderungen an die psychischen Arbeit, wie sie doie Psychoanalyse konzipiert hat. Die Corona Pandemie habe nur deutlich werden lassen, dass es keinen Rückzug in ein Zuuhause in uns selbst gibt, weil das Fremde – ganz konkret – in Gestalt des Virus uns längst besiedelt hat.

Summary
The author situates the psychoanalytical place in Jerusalem, the place of the congress: Whoever engages in psychoanalysis never leaves Jerusalem. For Freud had transferred the Jewish understanding of the basic human situation as one of uprooting to psychoanalysis. She sees the never-ending movement of departure, exile and return, which is itself already another departure, realised in the analytical situation. Departure from the familiar towards the stranger of oneself, leaving the retreat in a movement towards the other are the central demands on psychic work as conceived by psychoanalysis. The Corona pandemic has only made it clear that there is no retreat into a home within ourselves, because the foreign – very concretely – has long since colonised us in the form of the virus.


Richard Rusbridger (London): Struktur und Funktion von Partialobjekten

Zusammenfassung
Ich habe dargelegt, dass Partialobjekte – die Bestandteile von Phantasien in der paranoid-schizoiden Position – zu den Bausteinen des frühen seelischen Lebens gehören. Partialobjektbeziehungen entstehen zunächst entwicklungsbedingt, weil der psychische Apparat des Babys begrenzt ist. Sie werden jedoch bald durch die Antwort der Psyche auf die Urszene, die Phantasie der ausschließenden sexuellen Beziehung zwischen den Eltern, eingefärbt. Dies ist die früheste Version der ödipalen Situation – die Folge davon, als sexuelles Wesen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem Paar geboren zu werden, aus dessen Beziehung das Kind ausgeschlossen ist. Charakteristisch sind Phantasien des allmächtigen Eindringens in die Urszene durch Identifizierung und/oder Rivalität mit einem Elternteil oder mit einem Baby. Dieser Beziehungsmodus steht auch im späteren Leben noch zur Verfügung, wenn er aufgrund einer drohenden Verwundbarkeit gebraucht wird. Eine Konsequenz dieser Darstellung von Partialobjekten ist, dass sie die grundlegende Urszene als eine der Haupttriebkräfte des psychischen Lebens bestätigt. Ich habe die Beziehung zwischen Partialobjekten und ganzen Objekten einander gegenübergestellt und dabei ihre sehr unterschiedlichen emotionalen Qualitäten und ihr unterschiedliches Verhältnis zur Zeit hervorgehoben. Ich habe behauptet, dass Partialobjekte Proto-Symbole sind, die in sich selbst konkret sind, aber das Potenzial zur Symbolisierung besitzen, wenn ein aufnehmendes, denkfähiges Objekt zur Verfügung steht, so wie der Analytiker eines ist. In der Übertragungsbeziehung mit dem Analytiker stellen die Partialobjekte einen komprimierten Ausdruck von Aspekten der frühen Geschichte des Patienten dar.

Summary
I have suggested that part objects, the constituents of phantasies in the paranoidschizoid position, are among the building blocks of early mental life. Part object relating arises at first developmentally, because of the limitations of the baby’s mental apparatus. However, it soon becomes colored by the mind’s response to the primal scene, the phantasy of the excluding sexual relationship between the parents. This is the earliest version of the Oedipal situation – the consequence of being born as a sexual being into a relationship of dependency on a couple from whose relationship the baby is excluded. Characteristic phantasies are of the omnipotent invasion of the primal scene through identification and/or rivalry with either parent or with a baby. This mode of relating remains available for use in later life when it is needed because of a threat of vulnerability. An implication of this account of part objects is that it confirms the primal, foundational, scene as one of the main drivers of mental life. I have contrasted part object relating with whole object relating, emphasizing their very different emotional qualities, and their different relation with time. I have suggested that part objects are proto-symbols, concrete in themselves, but with the potential for symbolization if a containing object capable of thinking, such as an analyst, is available. In the transference relationship with the analyst, they represent a compressed expression of aspects of the patient’s early history.
 

Philippe Valon (Paris): Gisela Pankow (1914–1998). Für eine psychoanalytische Behandlung der Psychosen

Zusammenfassung
Gisela Pankow hat ihr Leben darauf verwendet, Möglichkeiten zu finden, um Freuds Behauptung, Psychosen könnten nicht psychoanalytisch behandelt werden, zu stürzen. Ohne sich jemals von Freuds Metapsychologie zu entfernen, aber durch die Veränderung einiger technischer Aspekte (z. B. durch die Einführung des Modellierens in die Sitzung), entwickelte sie einen Ansatz im Bereich der Psychosen, durch den die Schwierigkeiten, denen psychotische Personen begegnen, wenn sie versuchen, ihre Erfahrungen mit der Welt mitzuteilen, umgangen werden können. Sie bezeichnete diesen Ansatz als dynamische Strukturierung. Ihre Ansichten über den »gelebten Körper« und die »symbolisierenden Funktionen des Körpers« sind aus ihrer klinischen Erfahrung entstanden und bieten eine einzigartige Synthese aus Psychoanalyse und Phänomenologie.

Summary
Gisela Pankow has devoted her life to finding ways of reversing Freud’s claim that psychoses cannot be treated psychoanalytically. Without ever departing from Freudian metapsychology, but by modifying certain technical aspects (e. g. by introducing modelling into the session), she developed an approach to psychosis by which the difficulty psychotic subjects face when trying to communicate their experience of the world can be circumvented. She called this approach dynamic structuring. Her views on the »lived body« and the »symbolic functions of the body« are derived from her clinical experience and offer a unique synthesis of psychoanalysis and phenomenology.


Die Haut auf der Milch
Jakob Müller und Cécile Loetz (Heidelberg): Der Realität ins Auge sehen, ohne sich das Denken nehmen zu lassen. Einige Bemerkungen zur Psychoanalyse von Krieg und Gewalt

Zusammenfassung
Die Aufgabe psychoanalytischen Denkens im Angesicht kriegerischer Gewalt besteht vielleicht darin, sich weder in einen realitätsverleugnenden Rückzug zu begeben, noch in den Strudel regressiver Affekte ziehen zu lassen, welche die gesellschaftliche Debatte zunehmend zu beherrschen drohen.

Summary
The task of psychoanalytic thinking in the face of war and violence is perhaps neither to enter into a reality-denying retreat nor to be drawn into the maelstrom of regressive affects that which increasingly threaten to dominate the debate.