Drucken

Abstracts Heft 3/2022

Redaktionelles Vorwort

Bianca Gueye (Zürich): Wie braucht der Mensch die Masse?

Zusammenfassung
Es wird gezeigt, wie Freud sich von Le Bons Psychologie der Massen zu einer Weiterentwicklung seiner Massentheorie inspirieren lässt und wie Freud die Unterschiede der Psychoanalyse zu Le Bons Tiefenpsychologie erklärt. Weiter werden die Fragen untersucht, welchen Einfluss Massenpsychologie und Ich-Analyse auf die Entwicklung von Freuds zweiter Topik hatte und wie quantitative Gesichtspunkte und jüngere psychoanalytische Konzepte alternativ und erweiternd zu Freuds Konzeptualisierungen der Masse berücksichtigt werden können. Als weitere Konsequenz von Freuds Lockerung des Gegensatzes von Individual- und Sozial- oder Massenpsychologie wird die Praxis und Theorie der Gruppenanalyse zum Thema – insbesondere die Grossgruppe, in welcher sich regelrechte Massendynamiken entfachen. Beginnend mit einem Bericht über persönliche Erfahrungen in der Grossgruppe folgt ein Überblick über die Theorie der Grossgruppe. Zum Schluss werden Beispiele aktueller Massendynamiken unserer Zeit gruppen- und massenanalytischen Deutungslinien folgend besprochen.

Summary
It is shown how Freud is inspired by Le Bon’s psychology of the masses to further develop his theory of the masses and how Freud explains the differences of psychoanalysis to Le Bon’s depth psychology. Further, the questions of what influence Group Psychology and the Analysis of the Ego had on the development of Freud’s second topic and how quantitative viewpoints and more recent psychoanalytic concepts can be considered as alternatives and extensions to Freud’s conceptualizations of the mass will be explored. As a further consequence of Freud’s loosening of the opposition between individual and social or mass psychology, the practice and theory of group analysis becomes a topic of discussion – especially the large group in which real mass dynamics are sparked. Beginning with a report on personal experiences in the large group, an overview of the theory of the large group follows. Finally, examples of current mass dynamics of our time are discussed following group and mass analytic lines of interpretation.


Silvia Haellmigk (Genf): Spuren und Werden der frühen Identifizierungen

Zusammenfassung
Die Identifizierung, die Freud im allerersten Lebensalter ansiedelt, nimmt eine zentrale Stellung ein, um die Massenpsychologie und die Konstitution des Ichs zu verstehen. Die Identifizierung wird in diesem Artikel im Lichte der aktuellen psychoanalytischen Erkenntnisse über die frühe Beziehung wieder aufgegriffen. Die Spuren der frühen Identifizierung werden verfolgt und klinisch illustriert, wenn sie nachträglich reaktiviert werden: in der Kindheit, der Latenz, der Adoleszenz, im Erwachsenenalter und in der Psychologie der Massen und der Massenanführer.

Summary
Identification, which Freud situates at the very first age of life, occupies a central place for understanding crowd psychology and the constitution of the ego. Identification, in this article, is taken up again in the light of current psychoanalytical knowledge on the early relationship. The traces of early identifications will be followed and illustrated clinically when they are reactivated afterwards through retroactive action: during childhood, latency, adolescence, adulthood and in the psychology of crowds and crowd leaders.


Françoise Coblence (Paris): Psyche und der Geschlechtsunterschied

Zusammenfassung
In Ergänzung zu Freuds Ansicht, der Geschlechtsunterschied erhalte erst nach seiner Wahrnehmung und dann besonders im Oedipuskomplex und den nachträglichen Umformungen dieser Wahrnehmungen eine psychische Bedeutung, stellt die Autorin die Einschreibung des Geschlechtsunterschiedes in der Psyche von Beginn des Lebens an ins Zentrum. Spuren der frühesten mütterlichen Beziehung (primäre Feminisierung nach Donnet) in Verbindung mit dem transgenerationellen Auftrag werden im Ich eingeschlossen und sind nicht subjektivierbar. In ihrer Entstehung aus dem Körper muss sich die Psyche innerhalb multipler Identitäten integrieren und formen, was auf die primäre Feminisierung verweist und gemäss der Autorin nichts mit einer »konstitutionellen Bisexualität « zu tun hat. Die theoretischen Überlegungen werden durch klinische Beispiele, die Mythologie und Gedanken zu Rodins Psyche-Zeichnungen und -Assemblagen vertieft.

Summary
Complementing Freud’s view that gender difference acquires a psychic meaning only after it is perceived and then especially in the Oedipus complex and the subsequent transformations of these perceptions, the author focuses on the inscription of gender difference in the psyche from the beginning of life. Traces of the earliest maternal relationship (primary feminisation according to Donnet) in connection with the transgenerational mandate are enclosed in the ego and cannot be subjectivised. In its emergence from the body, the psyche must integrate and form itself within multiple identities, which refers to primary feminisation and, according to the author, has nothing to do with a »constitutional bisexuality«. The theoretical considerations are deepened by clinical examples, mythology and thoughts on Rodin’s psyche drawings and assemblages.


Nina de Spengler (Territet-Montreux): Der erste Mensch

Zusammenfassung
Für eine psychoanalytische Zeitschrift zu schreiben ist eine wesentliche Erfahrung, bei der die Autorin versucht, die Bewegungen ihres Zuhörens in der Sitzung darzustellen, ihre Erfahrung in und mit der Analyse in Verbindung mit dem Thema der Zeitschrift zu übertragen und eine mitteilbare Geschichte zu schreiben. Unter der Voraussetzung, dass man die Form findet, um genug zu sagen, ohne zu viel zu sagen, wobei Zeigen/Verstecken immer die Herausforderung ist, die zum Abenteuer des Schreibens führt. Wenn das Thema jedoch zu persönlich ist, kann es zu einem Hindernis werden, das den Faden der eigenen Assoziationen blockiert …

Summary
Writing for a psychoanalytic journal is an essential experience in which the author tries to represent the movements of her listening in the session, to transmit her experience in and with analysis in relation to the theme of the journal, and to write a communicable story. Provided that one finds the form to say enough without saying too much, showing/hiding is always the challenge that leads to the adventure of writing. However, if the subject is too personal, it can become an obstacle that blocks the thread of one’s associations …