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Abstracts Heft 4/2018

Redaktionelles Vorwort

Christina Gesser-Werning: »Aus heiterem Himmel …!«. Über Panik und ihre Anfälle

Zusammenfassung

Panik kann sich aufbauen, wenn man einer zentralen Wahrheit zu lange aus dem Weg gegangen ist und stattdessen mit einer auf zu vielen »alternativen Fakten« aufgebauten idealisierten Wirklichkeit lebt. Wenn diese angegriffen wird und verloren geht und man keine lebendige »Basis« in sich spürt, mit der man den Verlust begreifen und verarbeiten kann, kommt es zu einem Absturz aus der Idealisierung – und dann kann Panik ausbrechen. Diese sorgt dafür, dass der Zugang zu den wirklich problematischen seelischen Bereichen weiter versiegelt bleibt, und kann daher als Abwehrformation betrachtet werden. Die Analyse des Phänomens der Panik erfordert folglich eine Analyse der gescheiterten Transformationsprozesse, der nicht repräsentierten Zustände, die mit dem Trauma eines unsagbaren Schreckens einhergehen. Meine Erkundung, wie diese Erfahrungen auf unterschiedliche Weise dargestellt und transformiert werden können, führte mich zu einem Nachdenken über den Mythos des Pan und daran angrenzende »Figurierungen« (Dryope, Hermes, Dionysos, Teufel, Engel). Ich habe diese in Verbindung gebracht mit der genaueren Untersuchung einer spezifischen Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik, die ich in der Analyse einer panischen Patientin als entscheidend erlebte.

Summary

Panic can build up if one has been avoiding a central truth for too long and instead has been living with an idealized reality that is founded on too many »alternative facts«. When these are questioned, and there is no lively »basis« helping in the understanding and overcoming of the loss, a breakdown of the idealization will take place – and then panic can break out. It causes a sealing of the access to the truly problematic psychic areas, and can therefore be seen as a defense formation. Analysis of the phenomenon of panic, therefore, requires an analysis of failed transformation processes, non-represented states which accompany the trauma of a nameless dread. My investigations into how these experiences can be represented and transformed in varied ways led me to thinking about the myth of pan and adjoined »figurations« (Dryope, Hermes, Dionysus, devil, angel). I connect these findings with a more detailed examination of a specific transference and countertransference dynamic which I experienced as crucial in the analysis of a patient with panic attacks.

 

Sabine Richebächer: Otto Gross (1877–1920): Zwischen Psychoanalyse und Anarchismus, zwischen Wissenschaft und Visionen

Zusammenfassung

Gemäss Ernest Jones hat Sigmund Freud Otto Gross als »genialen Kopf« und – neben C. G. Jung – Begabtesten seiner Schüler bezeichnet. Er war eine schillernde, widersprüchliche Persönlichkeit, die die Menschen in seinem Umfeld polarisierte, aber auch faszinierte. Gross war Privatdozent für Psychopathologie an der Universität Graz. Er verteidigte die Psychoanalyse am Amsterdamer Kongress (1907), und als einer der ersten Psychiater versuchte er Freuds Schriften für das Verständnis und die Behandlung seiner schizophrenen Patienten nutzbar zu machen. Er beschäftigte sich intensiv mit Spaltungsvorgängen und verstand Schizophrenie als einen krankmachenden Anpassungsprozess des Individuums an die Gesellschaft. Eines seiner Hauptthemen war der Konflikt zwischen Eigenem und Fremdem. Dieser Konflikt war zugleich Otto Gross’ persönliches Lebensthema, an dem das Verhältnis zu seinem mächtigen Vater, dem bekannten Grazer Strafrechtsprofessor Dr. Hans Gross (1847–1915), wesentlichen Anteil hatte. Auf Drängen von Gross-Vater und mit einem Einweisungsschreiben von Sigmund Freud trat Gross-Sohn 1908 als Patient zwecks Drogenentzug ins Zürcher Burghölzli ein, wo Jung seine Behandlung übernahm. Es kam zu einer experimentellen, mutuellen Analysesituation, der Gross sich durch Flucht entzog. Er hatte jeden Halt verloren und wandte sich dem Anarchismus zu. In der Schwabinger Bohemien-Szene, auf dem Monte Verità bei Ascona und im Umfeld von Dada Berlin predigte und lebte er seine Vorstellungen von einer neuen, mutterrechtlichen Utopie destruktiv aus. Otto Gross ist ein gutes Beispiel für einen Analytiker, in dessen Leben und Werk utopische Elemente und mächtige Rettungsphantasien eine Rolle spielten. Am Beispiel seines kurzen, tragischen Lebens wird die Frage gestellt, inwieweit die Psychoanalyse besonders anfällig dafür sei, utopische Vorstellungen zu aktivieren und in eine Ideologie verwandelt zu werden.

Summary

According to Ernest Jones Sigmund Freud called Otto Gross an »ingenious mind« and – besides C. G. Jung – the most brilliant of his disciples. He was a dazzling, contradictory personality, who polarized but also fascinated the people in his environment. Gross lectured psychopathology at the University of Graz. He defended psychoanalysis at the Amsterdam Congress (1907) and was one of the first psychiatrists who tried to make use of Freud’s insights to understand and treat his psychiatric patients. He dealt with aspects of splitting and understood schizophrenia as the result of the adaptation of the individual to society. One of his main topics was the conflict of one’s own and the alien. At the same time this conflict was a central topic in Otto Gross’ own life where the relationship to his powerful father, the reputated professor of criminal law Dr Hans Gross (1847–1915), played an important part. Urged by his father and equipped with a medical certificate by Sigmund Freud, Otto Gross was hospitalized 1908 in the psychiatric hospital of Zurich the Burghölzli to be cured off his addiction to cocain and morphin. C. G. Jung was his therapist. The two men engaged in an experimental, mutual analysis – until Gross escaped from the clinic. More and more he was losing hold and turned to anarchism. In the bohemian circles of Schwabing, on Monte Verità near Ascona and in the environment of Dada Berlin he preached and destructively lived out his ideas of an utopian matriarchal society. Otto Gross was a good example for an analyst in whose life and work utopian elements and powerful rescue phantasies played an important role. His short and tragic life gives the opportunity to follow up on the question how far psychoanalysis is especially prone to activate utopian ideas and be turned into an ideology.

 

Christoph Frühwein: Die Heisenberg’sche und die Freud’sche Unschärferelation. Zur Bedeutung methodischer Subjektivität in einer naturwissenschaftlich verstandenen Psychoanalyse

Zusammenfassung

(Wie) kann Subjektivität als positionelle Bestimmung der Forschungshaltung in der Psychoanalyse – verstanden als Naturwissenschaft des unbewussten psychischen Geschehens – erkenntnistheoretisch aufgefasst und in ihrer gegenüber formalisierter Erfassung von »Beobachtungsdaten« überlegenen Forschungspotenz bewahrt werden? Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage ist die Betrachtung der »Ungenauigkeit« in naturwissenschaftlicher Erkenntnis am Beispiel der Quantenphysik seit Entdeckung der sogenannten Unschärferelation. Es können fundamentale Gemeinsamkeiten der in der Grundlagenphysik beschreibbaren epistemischen Probleme mit denen der Psychoanalyse herausgearbeitet werden. Die besondere und nicht zu ersetzende epistemische Bedeutung der Subjektivität wurde beispielsweise von Werner Heisenberg und Sigmund Freud fast zeitgleich, bezogen auf ihre jeweiligen Forschungsgebiete, in strukturell analoger Weise gesehen und formuliert. Als Folgerung ergibt sich (wieder einmal) die zentrale erkenntnisbedingende Rolle der Gegenübertragung als eines Geschehens, welches sich seiner Natur nach im Analytiker-Subjekt abspielt und zur Nutzbarmachung auf dessen privilegierten inneren Zugang angewiesen ist. Epistemische »Qualität« wird ebenso nicht als formalisierbares, sondern als forschungsalltagspraktisches Problem betrachtet. Nach der Freud’schen Tradition von Heilen und Forschen, wie sie von Y. Blumenberg (2012) aufgefasst und auf ihre religiös-kulturellen Wurzeln im jüdischen Denken hin untersucht worden ist, kann psychoanalytische Forschung und Praxis immer wieder nur durch die jeweilige Generation von Psychoanalytikern im konkreten Alltag erzeugt und am Leben gehalten werden, um tradiert werden zu können. Das geschieht vor allem in Falldiskussionen und kasuistischen Konferenzen.

Summary

(How) can subjectivity be epistemologically understood as a positional determination of the research attitude in psychoanalysis – perceived as a science of unconscious psychical processes – and can hereby the superior research potency of subjectivity (in comparison to the formalized acquisition of »observation data«) be preserved? The starting point for answering this question is the consideration of »inaccuracy« in scientific knowledge using the example of quantum physics since the discovery of the so-called uncertainty principle. Fundamental correlations between the epistemic problems in fundamental physics and those of psychoanalysis can be discovered. The special, significant and irreplaceable epistemic role of subjectivity was realized by Werner Heisenberg and Sigmund Freud within their respective fields of research at almost the same time. As a consequence of these thoughts, the essential methodological and epistemic phenomenon of countertransference emerges (once again) as an event that, by its very nature, takes place in the analyst subject and is dependent on his or her privileged inner and introspective perspective. Epistemic »quality« is not regarded as a formalizable but as an everyday practical problem. According to the Freudian tradition of healing and research, as perceived and examined by Y. Blumenberg (2012) for its religious-cultural roots in Jewish thought, psychoanalytic research and practice can only be kept alive by each generation of psychoanalysts re-creating it in everyday life and thus saving and passing it on. Keeping alive the tradition of psychoanalytic thinking takes place mainly in case-discussions and casuistic conferences.

 

Renata A. Sgier: »Lügen und Lügen«. Die Auswirkungen der Sprache auf das Objekt

Zusammenfassung

Benigne Lügen gehen von geheimen, uneingestandenen Wünschen aus und haben das Ziel, sich selbst und die inneren Objekte zu täuschen. Was die Wahrheit hätte sein sollen, wird abgeändert, verformt und erlaubt es dem Subjekt, diese Wahrheit zu vergessen. Dem gegenüber steht eine maligne, pervertierte Art von Lügen, das Falsche, der Ersatz. Sie dient der Verleugnung der inneren oder äusseren Realität und der Kontrolle, Täuschung und Manipulation des Objekts. Durch den Gegensatz von Empfindungen und ihrer Bezeichnung verunmöglichen Lügen eine gemeinsame Gewissheit, stossen das psychisch geschwächte Gegenüber in eine Einsamkeit und Leere und lösen Todesängste und Abhängigkeit aus. Es werden alte, aus ersten Erfahrungen mit Sprache stammende Wunden aufgerissen. Denn zur Erlangung von Autonomie und zur Ablösung aus der frühen Beziehung zum Primärobjekt ist es unentbehrlich, dass Worte eine wahre Bedeutung haben und keine Lügen sind.

Summary

Benign lies are products of secret, unadmitted wishes and have the aim to deceive oneself and the inner objects. What should have been the truth is modified, deformed to forget the truth. On the opposite we find malign, perverted lies, the wrong, the ersatz, with the aim to deny inner or outer reality and to control, to delude and to manipulate the object. Through the antagonism of sensation and their designation the malign lies make it impossible to create a common certainty, and they push fragile objects into loneliness and emptiness and provoke deadly terror and dependency. Through malign lies old traumas from primary experiences with language are revived, because to reach autonomy and separation from the primary object it is essential that words have a true meaning and are not lies.

 

Thomas Jung: Namenlos. Wo keine Verortung möglich ist

Zusammenfassung

Nach dem Sturz des Machthabers Ben Ali ergießt sich 2011 die erste Welle an Migranten über Lampedusa. Binnen weniger Tage sind bereits 5.000 junge Tunesier auf diesem Außenposten Europas gestrandet und damit genauso viele Flüchtlinge, wie Einheimische hier leben. Mit der Aussage »Die haben keine Namen!« reagiert ein Inselbewohner auf diese innerhalb kürzester Zeit erfolgte massive Umwälzung. Woraus speisen sich die solcherart mobilisierten Ängste? Ausgehend von dieser Frage wird anhand von Albert Camus’ Der Fremde und der Gegendarstellung des Arabers Kamel Daoud der Bogen gespannt zwischen einer historisch-gesellschaftlichen Dimension und dem sehr individuellen Umgang der Protagonisten damit. Angesichts radikaler Veränderungen werden Vernichtungsängste und Todeswünsche gleichermaßen aktiviert. Die Tendenz, den Fremden auszulöschen, ihm seinen Namen zu nehmen, wird ebenso laut wie die Angst vor Objektverlust bis hin zum Verlust der eigenen Integrität. Wenn das Gegenüber nicht zu verorten ist, kann das eigene psychische Gleichgewicht bis in die Grundfesten erschüttert werden.

Summary

After the overthrow of the ruler Ben Ali, Lampedusa experiences its first wave of migrants in 2011. Within just a few days, 5,000 young Tunisians are stranded on this European outpost; the number of refugees now equals that of the residents. One islander reacts to this massive upheaval by stating »They have no names«. What fuels the anxieties mobilized by such a turn of events? Driven by this question, Albert Camus’ The Outsider and a counter statement presented by the Arab author Kamel Daoud are examined. A socio-historical dimension is thus linked to the highly individual response by the protagonists. Fears of annihilation and death wishes are both activated when radical change occurs. The tendency to obliterate the stranger, to take his or her name away, becomes just as pronounced as the fear of object loss or even the loss of personal integrity. If the other cannot be identified and placed in a mental context, one’s own psychic balance can be shaken to its very foundations.