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Abstracts Heft 4/2019

Redaktionelles Vorwort

4/2019

Charles Mendes de Leon (Zürich): Die Kunst der Depersonalisation und die Arbeit des Unheimlichen. Zu einem technischen Vorschlag Michel de M’Uzans

Zusammenfassung

Das Unheimliche ist ein häufiger, meist stiller Gast in der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung. Leicht wird es übersehen oder mit anderem verwechselt. Der Referent stellt eine Differenz heraus zwischen der latenten »Arbeit des Unheimlichen« und dem Phänomen der Unheimlichkeit. Klinische Beispiele illustrieren den Gedankengang. Der französische Analytiker Michel de M’Uzan hat die Arbeit des Unheimlichen für technische Empfehlungen genutzt. Pro und Kontra dieses Interventionsstils werden diskutiert.

Summary
The uncanny is a common, mostly silent guest in the transference-countertransference relationship. It is easily overlooked or confused with other things. The author exposes a difference between the latent »work of the uncanny« and the phenomenon of eeriness. Clinical examples illustrate the train of thought. The French analyst Michel de M’Uzan has suggested the work of the uncanny for technical implementation. The pros and cons of this style of intervention are discussed.


Erika Kittler (Freiburg): Das »Phantom unseres Ichs« und das »Gespenst der Identität«. Ko-Referat zu Mendes de Leon

Zusammenfassung
Der Text folgt der Idee, dass für Michel de M’Uzan das Unheimliche in seiner Konzeptualisierung der Psychoanalyse an zentraler Stelle steht und dass z. B. das Phänomen der Depersonalisation – die unheimliche Auflösung der sicheren Grenzen unseres Ichs, unserer Identität – für die psychoanalytische Technik wesentlich ist. Bei diesem Verweilen im Unheimlichen, das Mendes de Leon als »Kunst« ansieht, kommt dem Analytiker die »Chimäre« zu Hilfe, eine Abgesandte des Lebenstriebes, die als Mischwesen die Vermischung der Identitäten anzeigt und diese zugleich stoppt, da sie – meist in Form eines unsinnigen Gedankens – wieder Form und Gestalt in die drohende Auflösung bringt. Therapeutisch geht es darum, Ich und Identität nicht vorzeitig abzusichern, sondern die ungewisse Ausdehnung unseres Ichs (»ich« in mir und »ich« im andern) auszuhalten. Hier hilft der Doppelgänger von Anbeginn des Lebens an, als Übergangssubjekt die Kluft zu überbrücken. Der Analytiker fungiert in der größten Verunsicherung als Doppelgänger. Doppelgängerphänomene, wie sie beim Extrembergsteigen auftauchen, werden in diesem Sinn als Vergewisserung des eigenen Daseins angesehen, die in der absoluten Leere zwischen »ich« innen und »ich« im Nirgendwo hilfreich sein können.

Summary
The text proposes that for Michel de M’Uzan the uncanny is at the centre of his conceptualization of psychoanalysis and that, for example, the phenomenon of depersonalization – i. e. the eerie dissolution of the secure boundaries of the ego, of identity – is essential to psychoanalytic technique. Dwelling on this concept of the uncanny, which Mendes de Leon considers to be an »art«, the analyst is aided by the »chimera«, which is a delegate of life instinct. It is a hybrid being which indicates the mixing of identities and stops this process at the same time, since it is constricting the impending dissolution to a form and shape, mostly in form of a nonsensical thought. Therapeutically the point is not to hedge ego and identity prematurely, but to endure the uncertain expansion of our ego (»the I« in myself and »the I« in the other). From the beginning of life onwards, the doppelganger helps to bridge the gap as a transitional subject. In the greatest uncertainty the analyst functions as a doppelganger, too. In this sense, phenomena of the doppelganger, as they appear, for instance, in extreme mountaineering, are regarded as assurance of one’s own existence. They can be helpful in the absolute emptiness between the inner »I« and the »I« in the nowhere.


Nicolas de Coulon (Lausanne): Zwischen Hysterie und Grenzfall: das Unheimliche

Zusammenfassung
Der kurze und packende Text Das Unheimliche wurde während jener Jahre erarbeitet, die zur Entdeckung des Todestriebes und zum Freud’schen Paradigmenwechsel führten. Deshalb ist es von Interesse, ihn nicht nur bezüglich der Verdrängung der ersten, sondern auch mit Blick auf die Kräfte der Entbindung der zweiten Topik zu betrachten. Drei klinische Situationen dienen als klinische Grundlage für die Diskussion, die den Begriff des Unheimlichen jenseits der Neurose entwickelt. André Greens Beitrag zum Chiasmus zwischen Hysterie und Grenzfällen eröffnet den Blick auf die Erschütterung der Ich-Grenzen in ihrer Verbindung mit den körperlichen Manifestationen. Benno Rosenbergs Arbeit über die Angst erlaubt es, diese als eine Manifestation des auftauchenden Todestriebes zu betrachten. Die topische Charakteristik situiert sich im unbewussten Ich, dessen Eigenschaften überdacht werden müssen. Schliesslich wird vorgeschlagen, daraus therapeutische Konsequenzen zu ziehen: dass besser unterschieden werden muss, was zum neurotischen Register gehört und was einem Funktionieren als Grenzfall entspringt.

Summary
The Uncanny, a short and striking text, was written during the years of reflection that led to the discovery of the death drive and the Freudian paradigm shift. Therefore, it is interesting to consider it not only in reference to the repression of the first topic but also to the unbinding forces of the second. Three clinical situations give a clinical basis for the discussion that develops the notion of the uncanny beyond neurosis. André Green’s contribution to the chiasm between hysteria and borderline cases opens on the shaking of the ego’s boundaries in its connection with bodily manifestations. Benno Rosenberg’s work on anxiety makes it possible to think of it as an emerging manifestation of the death drive. The topical characteristic affects the unconscious ego whose properties must be rethought. Finally, it is proposed to draw therapeutic consequences by distinguishing better between what belongs to the neurotic register and what can be considered as functioning borderline.


Julia Belting (Berlin): Das Unheimliche – die unheimliche Geburt des Todestriebes? Ko-Referat zu Nicolas de Coulon

Zusammenfassung
Das Ko-Referat bezieht sich auf die drei Vignetten des Beitrages von Nicolas de Coulon, mit denen er zeigt, wie sich das Unheimliche in Erschütterungen an den Ich-Grenzen und am Körper manifestieren kann. Es wird seine These diskutiert, ob diese Erscheinungsformen des Unheimlichen in ihrer Komplexität und Bedrohlichkeit fassbarer werden, wenn ein Mitwirken des Todestriebes angenommen wird. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Verbindungen sich zwischen dem Unheimlichen und der zweiten Topik finden lassen. Das Unheimliche Freuds zeitigt Spuren, die auf die zweite Topik hindeuten, wie der Wiederholungszwang und die Figur des Doppelgängers. Gleichzeitig kann die zweite Topik das Verständnis des Unheimlichen, wie es sich klinisch darstellen kann, erweitern.

Summary
The supplementary paper refers to the three vignettes by Nicolas de Coulon, which show how the uncanny can manifest itself in disruptions on the border of the Ego or on the body. His thesis is discussed in terms of whether these manifestations of the uncanny become more tangible in their complexity and threatening nature, if a participation of the death drive is assumed. Furthermore, the thesis examines (the question of) which connections can be found between the uncanny and the second topic. Freud’s uncanny shows traces that point to the second topic, such as the compulsion to repeat and the figure of the double. At the same time, the second topic may expand the understanding of how the uncanny can present itself clinically.


Wolfgang Walz (Kreuzlingen): Im Reich des Lichts – Imago des Unheimlichen

Zusammenfassung
Der Autor geht davon aus, dass sich Freud 1919 in Das Unheimliche und in der Fortsetzung seiner Arbeit Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911b) mit zwei unterschiedlichen Quellen des Unheimlichen und zwei Formen unterschiedlicher psychischer Funktionsweisen auseinandersetzt, nämlich denen des Primärprozesses und denen des Sekundärprozesses und deren Vermischung im analytischen Prozess. Freud postuliert, dass – anders als für das von ihm sogenannte Unheimliche aus verdrängten infantilen Komplexen – für das primärprozesshafte Unheimliche des Erlebens der »Gebrauch des Terminus ›Verdrängung‹ über seine rechtmäßigen Grenzen« ausgedehnt würde und man stattdessen »einer […] psychologischen Differenz Rechnung tragen« müsse, wobei »für die Theorie […] die Unterscheidung dieser beiden sehr bedeutsam« sei (1919h, S. 263 f.). Dies nimmt der Autor zum Anlass, anhand einer Fallvignette über die gelegentlichen Aktualisierungen unheimlichen Erlebens in der analytischen Situation, deren Ätiologie sowie über Modifikationen der psychoanalytischen Technik nachzudenken. Ein bislang geliebtes Gemälde wird im Rahmen eines déjà vu auf der Couch zum Imago des Unheimlichen. Im analytischen Dialog über dasselbe eröffnet sich die Einsicht in bislang innerlich nicht repräsentierte, nicht verbalisierbare, unbewusste infantile Phantasien und deren bislang persistierende frühe, primärprozesshafte Abwehr.

Summary
The author assumes that in 1919, Freud deals with two different sources of the uncanny and two forms of different psychic functionalities in The Uncanny (Das Unheimliche; 1919h) and in the continuation of his work Formulations on the Two Principles of Mental Functioning (Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens; 1911b), namely those of the primary process and those of the secondary process and their mixture in the analytical process. Freud postulates that – in contrast to the uncanny from repressed infantile complexes (das Unheimliche aus verdrängten infantilen Komplexen) – the »use of the term ›repression‹ beyond its legitimate limits« would be extended for the primary process-like the experienced uncanny (das Unheimliche des Erlebens) and that instead one would have to »take into account a psychological difference«, whereby »for the theory […] the distinction between these two is very impor¬tant«. The author takes this as an opportunity to reflect on the occasional actualisation of uncanny experience in the analytical situation, on its aetiology, and on modifications of psychoanalytical technique by means of a case vignette. As part of a déjà vu on the couch, a previously beloved painting becomes the imago of the uncanny. In the analytical dialogue about the same, an insight opens up into infantile fantasies that have so far not been internally represented, not verbalizable, unconscious, and in their early, primary process-like defence.


Nina de Spengler (Territet): Zur Frage der Schrift

Zusammenfassung
Ein Text der klassischen Antike zeugt vom Schock, den die Philosophen des 5. Jahrhundert v. Chr. nach der Erfindung der Schrift empfunden haben: Im Phaidros betrachtet Platon das Schreiben, das künstlich von außen auferlegt ist und keiner Unterstützung durch das Gedächtnis bedarf, als schwaches Hilfsmittel für ein mangelhaftes Gedächtnis und weist den Anspruch auf Ersatz für die lebendige Sprache zurück, die, »im Innern« geboren, das Gedächtnis beansprucht. Platons Argumente unterstützen die Vorstellungen der Sprache, des Sprechens und des Gedächtnisses, so wie wir sie heute auch noch haben und wie sie zur Debatte stehen können. Und diese Debatte wendet sich an die Psychoanalytiker: Wenn sie auf die Wirkung des Sprechens in der Analysestunde zählen, so hat das Thema der Einschreibung, eng verbunden mit demjenigen des Einbruchs, eine zentrale Funktion in der Freud’schen Konzeption des psychischen Apparates, der sich aus Spuren, d. h. verschiedenen Arten von Erinnerungen, konstituiert. Wir können demnach die platonische Idealisierung der Oralität ebenso diskutieren wie die komplexe Beziehung, welche die Schrift im Funktionieren des psychischen Apparates mit dem Gedächtnis unterhält, so wie es die Psychoanalyse beschreibt. Eine klinische Vignette bietet Gelegenheit, die immer noch aktuelle Relevanz der Fragen rund um den Begriff der Einschreibung zu zeigen. Viele Patienten stellen in gewissen Momenten im Verlaufe der Analyse den Wert des Sprechens als Behandlungsmethode infrage – und dies sowohl in Bezug auf ihr eigenes Sprechen wie auch auf das des Analytikers. Sie stellen sich tatsächlich Fragen bezüglich des Orts der Einschreibung ihres Leidens: Ist es im Körper (»Das ist in meinen Genen!«) oder in der Psyche? Gelingt es der Sprechkur, sie zu beruhigen, oder braucht es »etwas Stärkeres«, wie ein Medikament? Den Wert des einen oder des andern muss man manchmal in der Analyse aushandeln, wenn, wie bei Theresa, das Sprechen in der Analyse als traumatisch und einbrechend (invasiv) erlebt wird, wohingegen ein Medikament ihr passend (homogen) und ihrem Funktionieren entsprechend erscheint.

Summary
A text from classical antiquity bears witness to the shock felt by the philosophers of the 5th century BC after the invention of writing: In Phaidros, Plato considers writing, which is artificially imposed from the outside and requires no support by the memory, as a weak help against a defective memory. He rejects the pretension to substitute the living, »internally« born language, which requires memory. Plato’s arguments support representations of language, speech, and memory, that still speak to us today and that can be debated. Hence this debate is addressed to psychoanalysts: As they count on the effect of speech in the sessions of the analysis, the subject of the inscription, closely connected with that of the break-in, has a central function in the Freudian conception of the psychic apparatus, consisting of traces – of different kinds of memories. We can therefore discuss the Platonic idealization of orality as well as the complex relationship that writing maintains with memory in the functioning of the psychic apparatus, as described by psychoanalysis. A clinical episode will be an opportunity to show the relevance of questions about the notion of inscription. Many patients question the value of speech as a method of treatment at certain moments of their treatment – their own speech, but also that of their psychoanalyst. They question the place where their suffering is inscribed: In the body (»It’s in my genes!«) or in the psyche? Will the talking cure manage to relieve them, or would they need »something stronger«, like a drug? The value of one or the other must sometimes be negotiated in the cure when, as for Therese, speech in session is experienced as traumatic and invasive, whereas the drug seems homogeneous to her functioning.


Daru Huppert (Wien): Der Urvater und die Scham. Genealogie einer Demütigung

Zusammenfassung
Die psychoanalytische Schamliteratur weist eine überraschende Lücke auf: Sie übergeht die Schammoral, also jene Konstellation an moralischen Vorstellungen, aus der die Scham hervorgeht. Wollen wir die Schammoral begreifen, wird es notwendig, auf Freuds phylogenetische Schriften zu rekurrieren. Diese Schriften lassen sich als Genealogien der Moral begreifen, welche die Entstehung der moralischen Affekte beschreiben. Im Aufsatz wird gezeigt, wie die in Totem und Tabu dargestellte Ermordung des Urvaters die wesentlichen Elemente jener Scham erfasst, die sich um die Pole der Unterwerfung und der Auflehnung formiert. So wird deutlich, wie klinisch brisant die phylogenetische Theorie ist.

Summary
The psychoanalytic literature on shame evinces a surprising gap: it passes over shame morality, i. e., the constellation of moral notions, from which shame arises. If we wish to comprehend shame morality it becomes necessary to draw on Freud’s phylogenetic texts. His phylogenetic writings can be understood as a genealogy of morals, which delineate the development of moral affects. The essay shows how the murder of the primal father, described in Totem and Taboo, allows us to isolate the essential elements of shame, insofar this affect revolves around the poles of subjugation and insurrection. Thereby it becomes evident how clinically relevant Freud’s phylogenetic theory is.