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Abstracts Heft 4/2021

Redaktionelles Vorwort

Erika Kittler (Freiburg)
Prismaeffekt und Deutungsoptionen: Verdichten, Zerstreuen und Konstruieren. Der Beitrag Wolfgang Lochs zur Theorie und Praxis interanalytisch arbeitender und forschender Fallgruppen

Zusammenfassung
Wie das Prisma den weißen Lichtstrahl in die darin verborgenen Farben zerlegt, vermag eine psychoanalytisch arbeitende Fallgruppe das vorgelegte verdichtete Material so zu streuen, dass im Durchgang durch die in der Gruppe gebündelten Einzelpsychen unterschiedliche Nuancen, Farben und Perspektiven sichtbar werden. Dieser, von Balint so genannte, Prismaeffekt wurde von ihm und Wolfgang Loch in die Supervisionsarbeit eingeführt. Der Text zeigt auf, wie Loch daraus ein wichtiges Instrument für das Verständnis des analytischen Geschehens in der Stunde entwickelt hat, das nicht nur das Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen nachzuvollziehen erlaubt, sondern darüber hinaus vor allem das Entstehen von Deutungen bzw. von Deutungsoptionen aufzeigen kann. Damit hat er den Weg geöffnet für die besondere psychoanalytische Forschung mit rein psychoanalytischen Mitteln. Die Arbeit einer daraus abgeleiteten Arbeitsgruppe der EPF (WPSPTT) wird dargestellt.

Summary
Just as the prism breaks down the white ray of light into the colours hidden within it, a case group working psychoanalytically is able to scatter the condensed material presented in such a way that different nuances, colours and perspectives become visible as it passes through the individual psyches bundled in the group. This prism effect, as Balint called it, was introduced into supervision work by Balint and Wolfgang Loch. The text shows how Loch has developed an important instrument for understanding the analytical events in the lesson, which not only allows the transference-countertransference process to be understood, but above all can show the emergence of interpretations or the so-called interpretive options. In this way he opened the way for special  psychoanalytic research with purely psychoanalytic means. The work of a working group derived from this at the EPF (WPSPTT) is presented.


Catherine Chabert (Paris)
Didier Anzieu: Für eine Psychoanalyse der Grenzen – die paradoxe Übertragung und das Berührungsverbot

Zusammenfassung
Nach einer ersten Situierung des vielseitig gebildeten und interessierten Didier Anzieu, der sich als Psychoanalytiker besonders von dem angezogen fühlte, was jenseits der Grenzen der Psychoanalyse liegt, gleichzeitig ein profunder Kenner des Werks von Freud war, das er zu vervollständigen suchte, beschreibt die Autorin die für diese Vervollständigung wichtigen fünf Punkte aus dem Werk Das Haut-Ich. In der Folge geht sie ausführlicher auf die von Anzieu beschriebenen »paradoxen Übertragungen« ein, die Abkömmlinge des Todestriebes und bei der negativen therapeutischen Reaktion entscheidend sind. Dies und die anschließenden Erläuterungen zum doppelten »Berührungsverbot« und seiner Bedeutung für die psychische Entwicklung wird in einem letzten Abschnitt anhand eines klinischen Fallbeispiels illustriert.

Summary
After an initial situating of the versatile educated and interested Didier Anzieu, who as a psychoanalyst was particularly attracted to what lies beyond the boundaries of psychoanalysis, who is at the same time a profound connoisseur of Freuds work, which he seeks to complete, the author describes the five points from the work The Skin Ego that are important for this completion. She then goes into more detail about the »paradoxical transferences« described by Anzieu, which are descendants of the death drive and are crucial in the negative therapeutic reaction. This and the subsequent explanations of the »double prohibition of touching« and its significance for psychic development are illustrated in a final section using a clinical case study.


Annie Elisabeth Aubert (Orléans), Manou Fry (Chambéry), Armelle Hours (Lyon)
Hautfarbe(n): Tappen im Dunkeln

Zusammenfassung
Ausgehend von der Begegnung zwischen einer weißen Analytikerin in Begleitung einer Lingala-Dolmetscherin und einer schwarzen Patientin mit Narben auf ihrer Haut untersuchen drei Analytikerinnen Fragen, die durch das Nachdenken über Hautfarbe(n) aufgeworfen werden. In ihrer Affektfähigkeit gelähmt, wird die Analytikerin erkennen, dass sie, ohne es zu wollen, selbst in eine Hierarchie von Farben eingeschrieben ist, die die Entfaltung eines potentiellen Raumes verhindert. Das Bewusstsein der Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty) und das Denken Fanons ermöglichen es, die Gefahr einer Sackgasse zu erkennen. Die Diskussion dieser Arbeit in einer interanalytischen Gruppe erwies sich als Resonanz auf die klinische Ausgangssituation (die sich in der Gruppe widergespiegelt hat). Die Figurationen der Mehrdeutigkeit, die von den Körpern ausgingen, haben Auswirkungen auf das Denken der Analytiker. Deren Transformationskapazitäten drohen durch die Bezugnahme auf das Paradigma der Differenz lahmgelegt zu werden.

Summary
Based on the encounter between a white analyst accompanied by a Lingala interpreter and a black patient with scars on her skin, three analysts explore issues raised by thinking about skin colour(s). Paralysed in her capacity for affect, the analyst comes to realise that, unintentionally, she is herself inscribed in a hierarchy of colour that prevents the unfolding of potential space. The consciousness of intercorporeality (Merleau-Ponty) and Fanon’s thinking make it possible to recognise the danger of an impasse. The discussion of this work in an inter-analytic group proved to resonate with the initial clinical situation (which was reflected in the group). The figurations of ambiguity that emanated from the bodies have implications for the thinking of the analysts. Their transformative capacities are in danger of being paralysed by reference to the paradigm of difference.


Johann Georg Reicheneder (Berlin)
Zur Verarbeitung von Bewunderung, Neid und Schuldgefühl in Freuds Traum von Irmas Injektion

Zusammenfassung
Eine der wichtigsten Beziehungen in Freuds Leben von Anfang der 1880er Jahre bis ca. 1895 war Josef Breuer. Die bisher erschienenen vier Bände der Brautbriefe bestätigen nicht nur diese bereits bekannte Tatsache, sie lassen darüber hinaus deutlich werden, mit welch mächtigen Gefühlen von Zuneigung und Bewunderung auf der einen Seite diese Entwicklung verbunden war. Auf der anderen Seite wird aus den Briefen gleichzeitig sichtbar, dass Freud in seinem Empfinden zu Breuer immer wieder mit heftigen Gefühlen von Neid zu kämpfen hatte angesichts von Breuers umfassender kultureller und wissenschaftlicher Bildung. Bei Freud war spätestens mit dem jähen Abreißen der Verbindung zu Breuer ein Gefühlsumschlag zu beobachten, in dem die Empfindungen von Hinneigung und Bewunderung durch erhebliche Enttäuschung, ja sogar von Verbitterung ersetzt werden. Die Untersuchung eines Teilstückes des Traums von »Irmas Injektion«, in dem Freud Breuer als eine beschädigte, entwertete Figur zeigt, wird verknüpft mit Überlegungen zur Entwicklung der freien Assoziation, die Freud an Hand dieses Traumes erstmals im zweiten Kapitel der Traumdeutung entwickelt und gleichzeitig kodifiziert. Es wird schließlich die Frage gestellt, ob diese exquisit kreative Leistung als Ausdruck des Wunsches verstanden werden kann, Wiedergutmachung zu leisten für die feindseligen Gefühle, die ihn gegenüber Breuer erfüllten und zum Abbruch der Beziehung zu ihm führten.

Summary
One of the most important relationships in Freud’s life from the beginning of the 1880s to about 1895 was Josef Breuer. The four volumes of the bride’s letters published so far not only confirm the facts already known, but also show the powerful feelings of affection and admiration associated with this development on the one hand. On the other hand, the letters show at the same time that Freud, in his feelings about Breuer, had to contend time and again with violent feelings of envy in the face of Breuer’s extensive cultural and scientific education. At Freud’s abrupt break-down of the connection with Breuer, at the latest, an emotional envelope was observed in which the feelings of inclination and admiration are replaced by considerable disappointment, even bitterness. The examination of a section of the dream of »Irma’s injection«, in which Freud portrays Breuer as a damaged, devalued figure, is combined with reflections on the development of the free association, which Freud first developed and codified on the second chapter of dream interpretation on the hand of this dream. Finally, the question is asked whether this exquisitely creative achievement can be understood as an expression of the desire to make amends for the hostile feelings that filled him with Breuer and led to the breakdown of the relationship with him.