Dietmut Niedecken (Hamburg): Die Bakchen des Euripides und das moderne Subjekt
Zusammenfassung
Im Bemühen, die sozialphilosophischen Überlegungen aus Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno) mit psychoanalytisch-soziokulturellen Reflexionen zu verbinden, stelle ich hier das Drama Die Bakchen von Euripides vor. Es dient mir dazu, zu zeigen, wie die Konstitution des modernen Subjekts, dessen Anfänge schon in der aufgeklärten polis Athens ausgemacht werden können, auf einer Sollbruchstelle gründet. Diese Sollbruchstelle wird in Euripides’ Werk durch den Kontrapunkt von Pentheus’ perverser Persönlichkeitsstruktur und Agaues psychotischem Wahnzustand dargestellt. Ich verstehe also die beiden Rollen als ein zueinander gehöriges Ganzes, entsprechend dem, was Horkheimer und Adorno als das »männliche Subjekt« beschreiben, das in sich männliche und weibliche soziale Rollen vereint. Zwei Beobachtungen an Kleinkindern werden herangezogen, um zu zeigen, wie die »Sollbruchstelle des modernen Subjekts« sich in analen Konfrontationen formieren kann. Abschließend kontrastiere ich eine dritte Position, die dem Autonomie-Ideal des »männlichen Subjekts« und der davon bestimmten Wissenschaft entspricht, mit jener dritten Position, die für die psychoanalytische Praxis kennzeichnend ist, und zeige, dass die letztere dem entspricht, was in der Antike als »Sophrosyne« bezeichnet wurde, und zwar in dem spezifischen Verständnis dieser Tugend, das in Euripides’ Tragödie implizit skizziert ist.
Summary
I’m presenting and analysing The Bacchae by Euripides, in an attempt, to bring together the socio-philosophic reflections in The Dialectics of Enlightenment by Horkheimer/Adorno, with some Freudian socio-cultural reflections. It serves me as a parable to show that the constitution of the modern subject (already in its beginnings in the enlightened Athenian polis) is based on a predetermined breaking point. This breaking point is depicted in Euripides’ work through the juxtaposition of Pentheus’ perverse structure and Agaue’s psychotic delusion. I understand both roles as part of a whole, similar to the way Horkheimer and Adorno speak of the »male subject«, which unites in itself male and female social role schemata. In two child observations, I show how this predetermined breaking point will be produced in specific anal confrontations. As a final conclusion, I contrast a third position of the »male subject«, that can be seen as the attempt of modern science to achieve absolute independence and autonomy, with that of psychoanalysis, which sketches a mobile interrelation in the sense of the ancient Greek »Sophrosyne«, and show how the latter model is implicitly sketched out in Euripides’ drama.
Marion M. Oliner (New York): Psychoanalytische Erkundungen der Dysphorie
Zusammenfassung
Die Autorin beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten des Traumas, die in der allgemeinen psychoanalytischen Literatur über dieses Thema weniger Beachtung finden. Dazu gehören die Bedeutung der äußeren, unbelebten Welt für das Leben des Subjekts, die Deformation des Selbstbildes, die das charakteristische dysphorische Gefühl hervorruft, und die Rolle der Omnipotenz beim Trauma. Die Frage der grundsätzlichen Möglichkeit, das Trauma zu integrieren, wird – durchaus in Abhebung von in der Literatur üblichen Positionen – ebenso erörtert wie die Rolle der unbelebten Welt bei der Integration des Traumas.
Summary
The author deals with various aspects of trauma that receive less attention in the general psychoanalytic literature on this subject. These include the importance of the external, inanimate world in the subject’s life, the deformation of selfimage that produces the characteristic dysphoric feeling, and the role of omnipotence in trauma. The question of the fundamental possibility of integrating the trauma is discussed – quite in contrast to positions usual in the literature – as well as the role of the inanimate world in the integration of the trauma.
Marion M. Oliner (New York): Psychoanalytisches Verstehen des Traumas als »work in process«
Zusammenfassung
In diesem Artikel rückt die Autorin das Problem der Omnipotenz in den Vordergrund, das bei traumatisierten Patienten eine besondere Rolle spielt, jedoch häufig übersehen wird. Wird dem unbewussten Omnipotenzgefühl in der therapeutischen Arbeit nicht Rechnung getragen, so entstehen behandlungstechnische Schwierigkeiten, die sich letztlich in der Vertiefung des Gefühls der Überlebensschuld bemerkbar machen. Anhand von Überlegungen zur Rolle der äußeren Realität sowie anhand einiger autobiographischer Vignetten plädiert die Autorin für eine Betrachtung des Traumas als Geschehen, das nach Integration strebt, und erörtert die Bedingungen dieses Prozesses. Am Schluss werden Überlegungen zur transgenerationellen Weitergabe des Traumas angestellt.
Summary
In this article, the author brings to the fore the problem of omnipotence, which plays a special role in traumatized patients, but is often overlooked. If the unconscious feeling of omnipotence is not taken into account in the therapeutic work, treatment-technical difficulties arise, which are ultimately noticeable in the deepening of the feeling of surviving guilt. Using reflections on the role of external reality and some autobiographical vignettes, the author advocates viewing trauma as an event that aspires to integration, and discusses the conditions of this process. At the end, reflections on the transgenerational transmission of the trauma are made.
Anna Helbok (Wien): Der Traum und die Bilder
Zusammenfassung
Der Artikel entstand im Rahmen der fachspezifischen psychoanalytischen Ausbildung in Wien und verdankt sein Entstehen der anregenden gemeinsamen Lektüre und Diskussion der Traumdeutung im Wintersemester 2021/22. Ich möchte der Seminarleiterin und dem Seminarleiter sowie meinen Kolleginnen und Kollegen herzlich dafür danken. Ich widme mich in dieser Re-Lektüre einem Aspekt der Träume – nämlich deren Bildhaftigkeit. Dabei interessiert mich, wie Freud die Prozesse der Bildwerdung im psychischen Apparat denkt, wie sich psychisches Material im Traum ins Bild setzt. Ich nutze Freuds Modell als Denkmodell für die Bildhaftigkeit des Tagtraums und des Wahns (in Klinik und Literatur), aber auch für das Versagen der bildlichen Funktion.
Summary
The article was written in the framework of psychoanalytical training in Vienna and owes its developing to the stimulating lecture and discussion of the Traumdeutung in winter term 2021/22. Thank you very much to the seminar leaders and my colleagues. I dedicate this re-lecture to one aspect of dreams – to their pictorial quality. I am interested in the way Freud understands the processes of forming pictures in the psychic apparatus, in how the psychic material is being set into a picture in dream. I use Freud’s model as a model of thinking for the pictorial quality of daydreams and delusions (in clinical practice and literature) as well as for the failure of the pictorial function.