Bloom, Harold: Einfluss-AngstEine Theorie der Dichtung
Jeder junge Dichter kämpft verzweifelt, um sich aus der Umklammerung durch sein Vorbild zu befreien. Damit er aus dem übermächtigen Schatten der Klassiker treten kann, unterzieht er ihre Dichtung einer aggressiven "Fehllektüre" ("misreading"), aus der heraus er seine eigenen Texte entwickelt. Eine "richtige" Lektüre kann es nicht geben: Im Grunde sind alle Lektüren "Fehllektüren". Die Bedeutung eines literarischen Textes ist das Ergebnis einer unabschließbaren Lektürebewegung, in der immer mehrere Texte involviert sind. Dichtung ist so immer auch gegen andere Dichtung geschrieben, in einer Mischung aus Trotz und Selbstbehauptungswillen – die Literaturgeschichte ist ein Schlachtfeld.
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