René Kaës (Pourrières): Der Geschwisterkomplex, im subjektiven Raum und in Gruppen miteinander ins Verhältnis gesetzt
Zusammenfassung
In meiner psychoanalytischen Praxis habe ich den Geschwisterkomplex als einen spezifischen Organisator der individuellen Psyche wahrgenommen, aber auch der intersubjektiven, familiären, gruppalen und gesellschaftlichen Bindungen. Er unterscheidet sich von der organisierenden Kraft des Ödipuskomplexes, so wie er ihm auch angegliedert ist. Wenn das so ist, darf man sich fragen, warum dieser Komplex so lange in der psychoanalytischen Theorie vernachlässigt wurde. Meine Untersuchungen haben gezeigt – einem Pfad folgend, der ins besondere von Jacques Lacan und Jean Laplanche gebahnt wurde –, dass der Geschwisterkomplex seine eigene Substanz, seine eigenen Themen und spezifischen Konflikte aufweist. Gestützt auf die Klinik habe ich versucht zu verstehen, wie der Geschwisterkomplex sich gemeinsam mit dem Ödipuskomplex ausdrückt und worin er sich von den geschwisterlichen Bindungen unterscheidet.
Summary
In my psychoanalytic practice, I have perceived the sibling complex as a specific organiser of the individual psyche, but also of intersubjective, familial, group and social bonds. It is distinct from the organising force of the Oedipus complex, as it is also attached to it. If this is so, one may ask why this complex has been neglected in psychoanalytic theory for so long. My research has shown – following a path pioneered in particular by Jacques Lacan and Jean Laplanche – that the sibling complex has its own substance, its own themes and specific conflicts. Drawing on the clinic, I have tried to understand how the sibling complex expresses itself together with the Oedipus complex, and how it differs from sibling bonds.
Monique Selz (Paris): Haben Sie Verführung gesagt? Aber wer verführt hier wen?
Zusammenfassung
Es handelt sich um einen Vortrag, der auf dem von ETAP (Études et traitements analytiques parle psychodrame) im November 2019 organisierten Kolloquium zum Thema »Verführung, Suggestion und Interpretation« gehalten wurde. Dieses Kolloquium folgte auf eine Reihe von monatlichen Vorträgen, die zum selben Thema stattgefunden hatten.Im Vortrag wurde nach einigen Anmerkungen zur Frage der Verführung der Fall von Clément vorgestellt, der mit dem individuellen analytischen Psychodrama in der Gruppe behandelt wurde, wie wir es in der ETAP Association
praktizieren. Die Behandlung von Clément dauerte etwas mehr als zehn Jahre. Nicht nur, dass er nichts Attraktives an sich hatte, er machte auch Angst, vor allem den Frauen. Man hatte ihn immer für eine Jungfrau gehalten. Doch entgegen allen Erwartungen ging er gegen Ende seiner Behandlung eine Liebesbeziehung ein. Die Beziehung war kompliziert, da Sexualität bei ihm äußerst problematisch war, aber es war eine Beziehung, die Bestand hatte und ihn dazu brachte, seinen Job in Paris aufzugeben und zu der Frau zu ziehen, die er kennengelernt hatte.
Summary
This is a lecture given at the Colloquium organised by ETAP (Etudes et traitements analytiques parle psychodrame) in November 2019 on the theme of »Seduction, suggestion and interpretation«, which followed a series of monthly lectures held on the same theme. The conference, after some elements on the issue of seduction, presents the case of Clément, treated by individual analytical psychodrama in a group, as we practice it in the ETAP Association. Clément’s treatment lasted a little over ten years. Not only was there nothing attractive about him, but he was also frightening, especially to women. He had always been thought to be a virgin. However, against all odds, towards the end of his treatment, he started a relationship. The relationship was complicated, as sexuality was extremely problematic for him, but it was a relationship that lasted and led him to leave his job in Paris to settle down with the woman he had met.
Eli Zaretsky (New York): Was ist Massenpsychologie?*
33. Sigmund-Freud-Vorlesung 2021
Zusammenfassung
Der Autor zeichnet zunächst die Frühgeschichte der Massenpsychologie nach, die er als erste Form der politischen Theorie begreift, um dann ihre Bedeutung im Zeitalter des Kapitalismus auszuführen, wobei er auch hier den Kapitalismus nicht nur als Wirtschafts-, sondern umfassender als Lebensform versteht, die mit der Mobilisierung der Massen einherging. In der Folge wird das Aufkommen von Liberalismus und Nationalismus als Gegenkräfte zum Kapitalismus geschildert und danach – mit Bezug auf den Fortgang der historischen Ereignisse – eine Analyse von Populismus und Faschismus vorgenommen. Das Mit- und Gegeneinander dieser Strömungen, dessen psychische Wirkmechanismen mithilfe der Freud’schen Massenpsychologie und anderer psychoanalytischer Konzepte wie Narzissmus und Spaltung erörtert werden, eröffnet ein Verständnis für die Entwicklung von Massenbewegungen in den USA seit Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, die im letzten Teil des Artikels dargestellt wird.
Summary
The author first traces the early history of mass psychology, which he understands as the first form of political theory in order to then elaborate on its significance in the age of capitalism. However, for the author capitalism is not only an economic system, but more comprehensively a form of life that went hand in hand with the mobilisation of the masses. Subsequently, the author describes the emergence of liberalism and nationalism as counter-forces to capitalism and then undertakes an analysis of populism and fascism. The psychological mechanisms of these forces are discussed with the help of Freudian mass psychology and other psychoanalytical concepts such as narcissism and splitting. The coexistence and opposition of these political and historical currents opens up an understanding of the development of mass movements in the USA from the mid-20th century to the present.
Die Haut auf der Milch
Erwin Kaiser (Berlin): Hinter dem Gesetz. Eine Deutung von Franz Kafkas »Türhüterlegende«
Zusammenfassung
Unter dem Motto eines Zitats von Max Brod – »Wie wenn man ewig an einer Mauer ohne Tür entlanggeht – ins Innere des Hofes aber nicht hineinkommt« – wird eine Interpretation von Franz Kafkas Vor dem Gesetz versucht. Eine Durchsicht von Beiträgen aus der Literaturwissenschaft weist hin auf die Irritation, die Kafkas Texte auslösen (Elm) und seine »perversely deliberate evasion of interpretation« (Bloom). Auch von psychoanalytischen Autoren werden unzählige Deutungen angeboten, die ödipale, narzisstische und masochistische Züge in Kafkas Texten hervorheben, zuletzt Gregorio Kohon 2016, der sieht: »… the encounter with something that seems to be outside language, something that cannot be symbolized […] hence its traumatic character. What comes back to haunt are the tombs of others.« Im vorliegenden Text wird eine Interpretation von Vor dem Gesetz angeboten, die assoziativ dem Text folgt, eine Gegenübertragungsreaktion aufnimmt und ihn später assoziativ mit der Dynamik des Verlaufs einer psychoanalytischen Behandlung eines Patienten verknüpft. Als Deutungshintergrund wird zunächst Greens Konzept der toten Mutter verwendet, einer klinischen Konstellation, die auf die Depression einer Mutter verweist, deren Ursache ihrem Kind verschlossen bleibt. Mit Hilfe von Aufzeichnungen Kafkas wird hinter seinem Text eine zweite Ebene sichtbar gemacht, in der Unglück als Glück erlebt wird. Diese zweite Ebene wird verstanden als Ausdruck einer Spaltung, wie Freud sie beschrieben hat. Mit ihrer Hilfe manipuliert Kafka den Leser und begibt sich selber in einen Rückzugsort. Eine solche Konstellation, in der psychoanalytischen Literatur als »pathologischer Rückzug« beschrieben, findet sich wiederholt in Kafkas Werk. Zum Schluss wird vermutet, dass Kafka in seinem Schreiben in einen Dialog mit diesem zurückgezogenen Teil von sich selbst eintritt und den Leser als Gegenüber benutzt, um die damit verbundenen unerträglichen, traumatischen Erfahrungen zur Sprache zu bringen.
Summary
An interpretation of Franz Kafka’s Before the Law is attempted under the motto of a quote by Max Brod – »Like walking forever along a wall without a door – but not being able to get inside«. A review of contributions from literary studies points to the irritation that Kafka’s texts cause (Elm) and his »perversely deliberate evasion of interpretation« (Bloom). Psychoanalytic authors also offer countless interpretations that highlight Oedipal, narcissistic and masochistic traits in Kafka’s texts, most recently Gregorio Kohon 2016, who sees: »… the encounter with something that seems to be outside language, something that cannot be symbolized […] hence its traumatic character. What comes back to haunt are the tombs of others.« In the present text, an interpretation of Before the Law is offered that associatively follows the text, takes up a countertransference reaction and later associatively links it to the dynamics of the course of a patient’s psychoanalytic treatment. Green’s concept of the dead mother, a clinical constellation that refers to the depression of a mother whose cause remains closed to her child, is first used as an interpretive background. With the help of Kafka’s notes, a second level is made visible behind his text, in which unhappiness is experienced as happiness. This second level is understood as the expression of a split, as Freud described it. With its help, Kafka manipulates the reader and places himself in a place of retreat. Such a constellation, described in psychoanalytical literature as »pathological withdrawal«, is found repeatedly in Kafka’s work. In conclusion, it is assumed that Kafka enters into a dialogue with this withdrawn part of himself in his writing and uses the reader as a counterpart to bring up the associated unbearable, traumatic experiences.