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Bernhard Waldenfels: Statt einer Apologie

Die Philosophie ist ein Konglomerat aus verschiedenen intellektuellen Tätigkeiten. Es gibt einen methodischen Anteil, der ähnlich in den Wissenschaften auftritt und der heutzutage in der analytischen Philosophie eine große Rolle spielt. Es gibt auch die historische Gelehrsamkeit. Wenn wir die griechische Philosophie völlig vergessen, dann wird aus unserer Philosophie etwas anderes. Bis in die Sprache hinein ist unser Denken geprägt durch klassische Autoren, und es gehört zur Eigenart der Philosophie, daß man, anders als in den normalen Wissenschaften, alte Texte immer wieder neu liest. Gegen den Empirismus von Hume hat es viele Gegenargumente gegeben, man liest ihn trotzdem immer wieder anders. Klassische Autoren wie Kant, Hegel oder Husserl prägen eine Sprache, eine Denkweise, sie setzen historische Standards.

Und dann gibt es das, was die Philosophie eigentlich ausmacht: das lebendige Fragen. Dieses bedeutet mehr als historische Gelehrsamkeit, mehr auch als methodischen Scharfsinn. Ich kann sehr scharfsinnig sein, aber dabei sehr unphilosophisch. Man kann sehr gut argumentieren, aber Philosophie heißt, daß man Fragen aufwirft, zum Beispiel die Frage, was denn Gerechtigkeit sei. Damit bin ich nahe bei Platon. Für ihn beginnt die Philosophie mit dem Staunen. Dieses vollzieht sich nicht methodisch, es ist auch nicht bloß historisch, es geschieht immer wieder neu. Kinder fangen immer wieder an zu staunen, wenn die Erwachsenen es ihnen nicht zeitig abgewöhnen.

Es kommt ein viertes hinzu: die indirekte Öffentlichkeitswirkung, die von der Behandlung grundlegender Fragen ausgeht. Nehmen wir das Beispiel von Kant. Seine Schrift Was ist Aufklärung? war nicht bloß für philosophische Fachkollegen bestimmt, sondern darin lasen auch Literaten und Politiker in Berlin oder in Königsberg. Schon Platon hat bekanntlich zwei Staatsschriften verfaßt.

Die Philosophie kann ihre Schwerpunkte mehr im methodischen oder mehr im historischen Bereich finden, sie kann verstärkt den Kontakt zur politischen Sphäre suchen, aber der eigene Kern sollte darin liegen, Fragen aufzuwerfen. Warum ist Seiendes und nicht viel mehr Nichts? Diese Leibnizsche Frage ist keine pragmatische Frage, der man mit Experimenten zu Leibe rücken kann. Für Liebe und Tod, zum Beispiel, wurde nie eine Lösung gefunden. Philosophische Fragen sind keine Probleme, die man löst, sondern sie machen versteckte Voraussetzungen sichtbar, und das geht nie endgültig.

Bernhard Waldenfels war bis zu seiner Emeritierung 1999 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.

Aus einem Interview, das Bernhard Waldenfels Irina Rotaru gegeben hat. Erschienen in Bukarest in den Studia Phaenomenologica X (2010), S. 253–269 und auf englisch im Graduate Faculty Philosophy Journal (New York), 17/1 (2016), S. 151–170.

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