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Abstracts Heft 1/2021

Redaktionelles Vorwort


Josef Ludin (Berlin): Die Gegenübertragungsdebatte der 1950er-Jahre, ihr Ursprung und ihre Auswirkung auf die gegenwärtige Psychoanalyse

Zusammenfassung
Das Konzept der Gegenübertragung, schon von Freud und Ferenczi ins Spiel gebracht, bedurfte offensichtlich einer gewissen Inkubationszeit bis es in den 1950er-Jahren zur regelrechten Obsession einer neuen Technik ausartete. Die Veröffentlichungen zur Gegenübertragung begannen unübersehbar zu werden. Klein war darüber verstört und noch wenige Jahre vor ihrem Tod wehrte sie sich vehement gegen den aufgekommenen inflationären Gebrauch der Gegenübertragung.
Doch konnte sie es nicht verhindern, dass dieses Konzept eine große Karriere machte und sich heute in allen psychotherapeutischen Behandlungsverfahren zu einer zentralen Technik entwickelte. Die Bedeutung der emotionalen Erfahrung wird als Ausgang dieser Entwicklung gesehen. Wir wollen diese Tendenzen von ihren Anfängen her kritisch nachzeichnen und uns Freuds bzw. Kleins Skepsis in Erinnerung rufen und darüber nachdenken, worin sie bestanden haben könnte.

Summary
The concept of countertransference, already brought into play by Freud and Ferenczi, obviously needed a certain incubation period before it slipped into a veritable obsession with a new technique in the 1950s. The publications on countertransference began to become highly visible. Klein could not prevent this concept from making a great career and developing into a central technique in all psychotherapeutic treatment methods today. The importance of emotional experience is seen as the outcome of this development. We want to critically trace these tendencies from their beginnings and recall Freud’s or Klein’s scepticism and reflect on what it might have consisted of.


Eva Schmid-Gloor (Zürich): Manchmal braucht es ein drittes Ohr – Über den Wert triangulierender Momente für die Bearbeitung der Gegenübertragung

Zusammenfassung
Ausgehend von Diskussionen innerhalb der EPF »Workingparty on Psychosomatics« wird der Einfluss triangulierender Momente im Austausch mit Kollegen für die Arbeit mit der Gegenübertragung beschrieben. Die Autorin zeigt anhand der Diskussion von zwei klinischen Beispielen, wie die Konfrontation zwischen verschiedenen Schulen (hier Klein und Winnicott) zur fruchtbaren Hinterfragung der eigenen Position und präziserem Nachdenken über die eigene Technik anregen kann. Diese Art von Austausch kann im besten Fall für den Analytiker zur Überwindung eventuell bestehender eigener Widerstände führen, die seine Gegenübertragung mitprägen – und deren Bearbeitung sich für ihn als besonders interessant erweisen kann.

Summary
Based on discussions within the EPF »Workingparty on Psychosomatics« the influence of triangulating moments in the exchange with colleagues for the work on countertransference is described. By discussing two clinical examples, the author shows, how the confrontation between different schools (here Klein and Winnicott) can stimulate fruitful questioning of one’s own position and more precise thinking about one’s own technique. In the best case this kind of exchange might lead the analyst to overcome his or her own possible resistances, which may shape her countertransference – and which’s processing can prove particularly interesting for him or her.

 

Charles Mendes de Leon (Zürich): Jenseits der Psychodynamik. Aspekte psychischer Destruktivität

Zusammenfassung
Die Arbeit pendelt zwischen zwei Zeitebenen, den 1910er-Jahren und der Gegenwart. Freuds Jenseits wird als ein primär klinischer Text verstanden. Der Autor legt den Akzent auf die Äusserungsformen psychischer Destruktivität in der analytischen Situation. Unter anderem vertritt er die Ansicht, dass die These eines erheblichen klinisch-theoretischen und technischen Fortschritts im Vergleich zu Freud mit Skepsis zu betrachten sei.

Summary
The work oscillates between two time levels, the 1910s and the present. Freud’s Jenseits is understood as a primarily clinical text. The author places the emphasis on the forms of expression of psychic destructiveness in the analytical situation. Among other things, he argues that the thesis of considerable clinicaltheoretical and technical progress in comparison to Freud should be viewed with scepticism.


Mechtild Dahinden Vorkauf (Bern): Eine Reise mit Kopfstand

Zusammenfassung
Der Text ist eine persönliche Reise anhand von Assoziationen zu Freuds Jenseits des Lustprinzips. Ausgehend von der Metapher des Kopfstands, der hier für einen Perspektivenwechsel steht, findet die Autorin zum Bild der Kollage als Analogie für Freuds Vorgehen in dem Text. Freud sieht sich angesichts der Ereignisse des Ersten Weltkriegs, angesichts des Scheiterns der Psychoanalyse an bestimmten Pathologien in einer Sackgasse. Anstatt die klinischen Beobachtungen in die bisherige Metapsychologie hinein zu zwängen, oder an dieser hier und da herum zu flicken, schaut er neu hin und ordnet Beobachtungen und Gedanken zu einem neuen Bild, das neue Zusammenhänge und Fragen erschliesst. Diese Umordnung erlaubt ihm, das nicht Repräsentierte zu denken. Er ist gezwungen, jetzt Beobachtetes mit Erdachtem zu kombinieren. Damit nimmt er in der Theoriebildung vorweg, was er 1937 in Konstruktionen in der Analyse für die analytische Arbeit als Erweiterung der Technik in der Sitzung empfiehlt, er konstruiert die Hypothese der zweiten Triebtheorie. Die Autorin wagt die Hypothese, dass Psychoanalyse dort lebendig bleibt, wo wir als Analytiker Forschende im Sinne Freuds bleiben und es der Analytikerin und der Analysandin gelingt, mit dem Unbekannten in Verbindung zu sein und immer neue Bilder und Repräsentationen zu finden.

Summary
The text is a personal journey based on associations with Freud’s Beyond the Pleasure Principle. Starting with the metaphor of the headstand, which here stands for a change of perspective, the author finds the image of the collage as an analogy for Freud’s approach in the text: In face of the events of the First World War, in face of the failure of psychoanalysis due to certain pathologies, Freud sees himself in a dead end. Instead of forcing clinical observations into the existing metapsychology, or tinkering with it here and there, he takes a new look and arranges observations and thoughts into a new picture that opens up new connections and questions. This rearrangement allows him to think what is not represented. He is now forced to combine the observed with the imagined. In this way he anticipates in theory formation what he recommends in 1937 in Constructions in Analysis for analytical work as an extension of the technique in session, he constructs the hypothesis of the second drive theory. The author ventures the hypothesis that psychoanalysis remains alive where we as analysts remain researchers in the sense of Freud, and where the analyst and the analysand succeed in being in contact with the unknown and finding ever new images and representations.
 

Johann Jung, René Roussillon (Lyon): Die Identität und das »Übergangs-Double« (»double transitionnel«)

Zusammenfassung
Die Autoren haben sich zum Ziel gesetzt, die Prozesse zu beschreiben, durch die ein Subjekt allmählich seine Identität konstruiert und seine eigenen Gefühle und Gedanken erlebt, zuerst in Bezug auf das Objekt, dann – als dessen Erbe – in Bezug auf sich selbst. Um diese Problematik zu betrachten, beziehen sie sich zuerst auf drei Schlüsselbegriffe – die Identität, die Reflexivität und das Double –, bevor sie das Konzept des »Übergangs-Double« untersuchen. So wird das Double als die Form konzeptualisiert, durch die die Identität des Subjekts durch die Begegnung mit dem als Double besetzten Objekt »übergeleitet« (transitionalisiert) wird, das Objekt, das ihm zur selben Zeit gleich und unterschiedlich ist. Die klinische Erforschung der Identitätsstörungen erlaubt die Rekonstruktion der Stadien der »identitäts-bezogenen und subjektiven Wege als Double« des Subjekts, welche zur inneren Organisation eines »Übergangs-Double« führen; d. h. einem lebendigen inneren psychischen Spiegel, der für die Beziehung des Subjekts zu sich selbst grundlegend ist.

Summary
The authors set out to describe the processes by which a subject gradually constructs his identity and experiences his own feelings and thoughts, first with regard to the object, then in his relation to himself that is its legacy. To consider this problematic, they draw on three key concepts – identity, reflexivity and the double – before going on to examine the concept of the »transitional double«. The double is therefore conceived as the form by which the subject’s identity is transitionalised through the encounter with the object cathected as a double, the same and different from himself at the same time. The clinical exploration of identity disorders allows the stages of the subject’s »identity-related and subjective trajectory as a double« to be reconstructed, leading to the internal organisation of a »transitional double«; that is, a vivid internal psychic mirror that is fundamental to the subject’s relation to himself.


Stefano Bolognini (Bologna): Über das Selbstgefühl (Sul Senso di Sé)

Zusammenfassung
Der Autor skizziert die Entwicklung des Begriffs vom Selbst in der Psychoanalyse, beschreibt anschliessend die vielseitige Bedeutung des Selbstgefühls (senso di sé), dessen Entwicklung und Verankerung in den Beziehungen sowohl mit den Primärobjekten wie auch späteren Caretakern. Anhand eines klinischen Falles, der Analysegeschichte einer jungen Frau, illustriert er die vorangegangenen theoretischen und entwicklungspsychologischen Überlegungen und weist dabei auf die Bedeutung der Einfälle der Analysandin und der Gegenübertragung und Haltung des Analytikers für das Verständnis und die Bearbeitung des je individuellen Schicksals des Selbstgefühls hin.

Summary
The author outlines the development of the concept of self in psychoanalysis, then describes the multiple meanings of the sense of self (senso di sé), its development and anchoring in the relationships with both primary objects and later caretakers. Using a clinical case, the analytical story of a young woman, he illustrates the preceding theoretical and developmental psychological considerations, pointing out the importance of the analysand›s associations and the analyst›s counter-transference and attitude for understanding and dealing with the individual fate of the sense of self.


Friedrich-Wilhelm Eickhoff (Tübingen): Bemerkungen über ein vernachlässigtes Konzept aus Sigmund Freuds Aufsatz Trauer und Melancholie: die »melancholische Arbeit«

Zusammenfassung
Freud hat in Trauer und Melancholie das Konzept der »melancholischen Arbeit« sehr konzis dargestellt, aber es explizit nicht auf einen klinischen Fall bezogen. Vieles spricht dafür, dass er es in den Brautbriefen in seiner Selbstanalyse entdeckt hat und, ohne es so zu nennen, in seiner Analyse des Rattenmanns auch angewendet hat. In die psychoanalytische Terminologie hat es keinen Eingang gefunden, wofür der Mourning and Melancholia gewidmete Band der Reihe »Contemporary Freud« ein beklagenswertes Beispiel ist. Ein Lichtblick sind hingegen zwei Arbeiten von Eberhard Haas, eine ausdrücklich Melancholische Arbeit betitelt, die andere Albrecht Dürers Melancolia I gewidmet. Der Autor ist von der klinischen Nützlichkeit des Konzepts »melancholische Arbeit« überzeugt.

Summary
In Mourning and Melancholia, Freud presented the concept of »melancholic work« in a very concise manner, but did not explicitly relate it to a clinical case. There is much to suggest that he discovered it in the Brautbriefe (engagement letters) in his self-analysis and, without calling it that, also applied it in his analysis of the Rat Man. It has not found its way into psychoanalytic terminology, of which the volume of »Contemporary Freud« dedicated to Mourning and Melancholia is a lamentable example. A ray of hope, however, is two articles by Eberhard Haas, one expressly entitled Melancholic Work, the other dedicated to Albrecht Dürer’s Melancolia I. The author is convinced of the clinical usefulness of the concept of »melancholic work«.


Die Haut auf der Milch
Andreas Saurer (Genf): »Wir sind noch immer nicht zu Hause« oder »Das Gewicht der Aussenwelt«

Zusammenfassung
David Grossmans Satz »Wir sind noch immer nicht zu Hause« veranlasst den Autor, Freuds Anweisung zu folgen, dass »die individuelle Psychologie auch … eine kollektive Psychologie ist«. Er fragt nach verborgenen Motiven, die diese Artikulation im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts so schwierig machen. Er erwähnt verborgene Elemente der israelischen Gründungsgeschichte, die Probleme aufwerfen können, und schlägt eine Reflexion vor, nicht um Erklärungen zu finden, sondern um über Möglichkeiten nachzudenken.

Summary
David Grossman’s phrase »We are still not at home« prompts the author to follow Freud’s instruction that »individual psychology is also … a collective psychology«. He asks about hidden motives that make this articulation so difficult in the context of the Israeli-Palestinian conflict. He mentions hidden elements of Israel’s founding history that can pose problems and suggests reflection, not to find explanations, but to think about possibilities.