Drucken

Abstracts Heft 1/2023

Redaktionelles Vorwort

Mark Fellmann (Basel): Zwischen Erinnern und Vergessen: Der psychoanalytische Prozess    

Zusammenfassung
In der psychoanalytischen Theorie kennen wir verschiedene Formen des Vergessens: Die wichtigsten sind: Verdrängung, Verleugnung oder Abspaltung. Entsprechend ist deren Wiederkehr in der Kur unterschiedlich. Erinnern und Vergessen sind Ausdrucksformen des Gedächtnisses. Damit hat sich Freud schon früh beschäftigt. Zentral ist dabei der Begriff der Erinnerungsspur. Sein Konzept folgt der Metapher der mehrfachen Einschreibung, welche die Grundlage der psychischen Repräsentation bildet. Die klinische Erfahrung zeigt, dass nicht alle Erinnerungen psychisch repräsentiert sind. Ihre Wiederbesetzung in der Übertragung führt zu einer qualitativ unterschiedlichen Dynamik. Dies soll an klinischen Beispielen gezeigt werden. Im Verlauf von längeren Analysen kann es gelingen, nicht-repräsentierte Erinnerungsspuren zu integrieren.

Summary
In psychoanalytic theory we know different forms of forgetting: the most important are: Repression, denial or splitting. Accordingly, their recurrence in the cure is different. Remembering and forgetting are expressions of the memory. Freud dealt with this early on. Central to this is the concept of the memory trace. His concept follows the metaphor of multiple inscription, which is the basis of psychic representation. Clinical experience shows that not all memories are psychically represented. The reappearance in the transference leads to qualitatively different dynamics. This will be shown by clinical examples. In the course of longer analyses it may be possible to integrate non-represented memory traces.


Christian Halbauer (Wien): Erinnern und Vergessen: Behandlungstechnische Überlegungen. Co-Referat zu Mark Fellmann    

Zusammenfassung
In diesem Ko-Referat zu Mark Fellmanns Artikel werden behandlungstechnische Überlegungen zum Thema Erinnern und Vergessen angestellt. Der deutende Umgang mit dem Hier und Jetzt und der (infantilen) Vergangenheit des Patienten wird aus (post-)kleinianischer Sicht beleuchtet. Erst das Verstehen der aktuellen Situation durch Deutungen des Hier und Jetzt ermöglicht vor diesem Verständnis der psychoanalytischen Behandlungstechnik, versteh- und verdaubare Verknüpfungen mit der Vergangenheit herzustellen. Das letzte Fallbeispiel von Fellmann wird im Detail betrachtet und seine zentrale Deutung untersucht. Der Beitrag schließt mit ergänzenden Überlegungen zum behandlungstechnischen Umgang mit psychisch Unrepräsentierten und Grenzfällen und weist hierzu auf das Zusammenspiel von gesättigten und ungesättigten Deutungen hin.

Summary
In this co-presentation on Mark Fellmann’s article, treatment-related considerations on the subject of remembering and forgetting are made. The interpretive handling of the here and now and the patient’s (infantile) past is examined from a (post-)Kleinian point of view. Only understanding the current situation through interpretations of the here and now makes it possible to establish understandable and digestible connections with the past based on this understanding of the psychoanalytic treatment technique. Fellmann’s final case study is considered in detail and its central interpretation explored. The article closes with additional considerations on how to treat the mentally unrepresented and borderline cases and points to the interaction of saturated and unsaturated interpretations.


Rainer Gross (Wien): … Heilung aller Gedächtnisschäden des Kranken?    

Zusammenfassung
Individuelles und kollektives Erinnern und Vergessen
Für die Psychoanalyse ist Erinnern gegenüber dem Verdrängen oder Agieren prinzipiell positiv besetzt. Auf politischer Ebene kommt der Imperativ des ›Niemals Vergessen‹ dazu und verstärkt diese positive Besetzung eventuell bis zu einer moralisch überhöhten Idealisierung des Erinnerns. Kann es aber auch ein positives, heilsames Vergessen geben? Vielleicht könnte das sogar Ziel einer geglückten Psychoanalyse sein? Gibt es umgekehrt auch pathologische Formen des Erinnerns – schlimmstenfalls sehr gefährlich auf kollektiver Ebene? Dazu werden im Text analytische und kulturwissenschaftliche Positionen vorgestellt. Weiters werden die unterschiedlichen Arten von Erinnern oder Vergessen in den zeitlichen Modi unseres Erlebens thematisiert: Gibt es z. B. Vergleichbares zur malignen Zeitlosigkeit der individuellen Trauma-Inhalte auch auf kollektiver Ebene? Die unauflösbare Interdependenz individueller und kultureller/kollektiver Prozesse des Erinnerns und Vergessens wird auch an Beispielen verdeutlicht.

Summary
Individual and collective remembering and forgetting
For psychoanalysis remembering has positive connotations – as opposed to suppression or acting out. On a political level the imperative of ›never forget‹ strengthens this positive cathexis to an idealization of remembering. But can there be a positive, healing forgetting? Could that even be one of the aims of psychoanalytic treatment? Are there on the other hand pathological forms of remembering – in the worst case very dangerous on a collective level? This text presents positions of anthropological and analytical thinking regarding these topics. Different modes of remembering and forgetting in regard to our experience of temporality are mentioned: Is there something comparable to the malign timelessness of individual traumatic experience on a collective level? Some examples of interdependency of individual and cultural/collective processes of remembering and forgetting are presented.


Lena Maier (Mainz): Von der Kultur des Erinnerns und der Angst zu vergessen – zum Umgang mit der Vergänglichkeit in der Gesellschaft. Co-Referat zu Rainer Gross    

Zusammenfassung
Erinnern und Vergessen sind kulturell tief verwurzelte, miteinander oszillierende neuro-psychologische Vorgänge. Anhand von Märchen, Mythen sowie historischen Ereignissen und Prozessen wird die identitätsstiftende Funktion des individuellen und kollektiven Gedächtnisses aufgezeigt. Abschließend werden kritische Überlegungen zu möglichen Folgen des gesellschaftlichen Leistungsdrucks auf das zukünftige Gedächtnis und die Autonomie des Subjekts entwickelt.

Summary
Remembering and forgetting are culturally deeply rooted neuro-psychological processes that oscillate with each other. Using fairy tales, myths and historical events and processes, the identity-forming function of individual and collective memory is demonstrated. Finally, critical reflections on the possible consequences of social pressure to perform on future memory and the autonomy of the subject are developed.
 

Ti Liu-Madl (Salzburg): Musikalisches Zuhören und Sinnlichkeit des Verstehens in der psychoanalytischen Arbeit    

Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag entstand aus dem Versuch der Autorin, der Musik, welche sie in ihrer psychoanalytischen Arbeit in mannigfaltigen Formen heraushört, näher zu kommen und sie besser zu verstehen. Es ist eine innere Forschungsreise, die von folgenden Fragen geleitet wurde: Was ist das Wesen des Musikalischen im psychoanalytischen Dialog? Wie passt das Musikalische des Sprechens im psychoanalytischen Theoriegebäude über die menschliche Psyche hinein? Worin besteht die Relevanz des musikalischen Zuhörens in der psychoanalytischen Arbeit? Welcher Wahrnehmungsmodus steht uns zur Verfügung, um diese subtile und dennoch wirkmächtige »Sprache« zu empfangen und welche Rolle spielt dabei der Körper? Was verstehen wir unter »Verstehen« in der psychoanalytischen Arbeit? Ist dieses Verstehen durch seine Prozesshaftigkeit und Vielschichtigkeit gekennzeichnet?

Summary
The present contribution arose from the author’s attempt to get closer to and attain a better understanding of the music she perceives in manifold forms during her psychoanalytic work. It is an inner research journey guided by the following questions: What is the nature of the music in psychoanalytic dialogue? How does the musicality of talking fit into the psychoanalytic theoretical edifice about the human psyche? What is the relevance of musical reception in psychoanalytic work? What mode of perception is available to us to receive this subtle yet powerful »language« and what role does the body play in this? What do we mean by »understanding« in the context of the psychoanalytic work? Is this understanding characterised by its processuality and multi-facetedness?


Michael Parsons (London): Selbsterkenntnis, einmal verweigert und einmal angenommen: Eine psychoanalytische Perspektive auf die Bakchen und den Ödipus auf Kolonos    

Zusammenfassung
Sowohl in Euripides’ Bakchen als auch in Sophokles’ Ödipus auf Kolonos sieht sich der Herrscher einer Stadt mit einem Fremden konfrontiert: einer gefährlichen, mit heiliger Bedeutung durchdrungenen Gestalt, die Anerkennung verlangt. Nach eingehender Untersuchung des Textes jedes Stücks schlage ich vor, Dionysos als einen Aspekt der eigenen Persönlichkeit des Pentheus zu betrachten, den er abgespalten und abgelehnt hat, und ähnlich verhält es sich mit Ödipus und Theseus. Pentheus und Ödipus sehen sich mit der gleichen Anforderung konfrontiert, etwas in sich selbst anzuerkennen, das sie als unerträglich empfunden und vermieden haben, es zu erkennen. Der Ausgang der beiden Stücke zeigt, wie Theseus diese Aufgabe bewältigt, während Pentheus dazu nicht in der Lage ist. In einem letzten Abschnitt gehe ich auf mögliche Probleme bei der Anwendung der Psychoanalyse auf literarische Werke in dieser Weise ein und zeige, wie sie dennoch zu unserem Verständnis beitragen kann.

Summary
In both Euripides’s Bacchae and Sophocles’s Oedipus at Colonus the ruler of a city is confronted with a stranger: a dangerous figure, imbued with sacred meaning, who demands recognition. Examining the text of each play in detail I suggest that Dionysos can be seen as an aspect of Pentheus’s own personality which he has split off and rejected, and similarly with Oedipus and Theseus. Pentheus and Oedipus are faced with the same demand to acknowledge something in themselves which they have found intolerable and avoided knowing about. The outcome of each play shows how Theseus achieves this task while Pentheus is unable to do so. In a final section I consider potential problems in applying psychoanalysis to works of literature in this way and show how it can nevertheless help our understanding.