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Abstracts Heft 1/2024

Redaktionelles Vorwort

 

Uta Zeitzschel (Hamburg): Die analytische Beobachtung frühgeborener Kinder auf der Neo-Intensivstation – Annäherungen vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Auseinandersetzungen mit den sogenannten »psychisch unrepräsentierten Zuständen«

Zusammenfassung
Weltweit wird heute jedes zehnte Kind früh, d.h. vor Abschluss der 37. SSW geboren. Mit intensivmedizinischer Hilfe sind Frühgeborene ab der 22. SSW überlebensfähig. Es wird dargestellt, wie frühgeborene Kinder auf neonatologischen Intensivstationen versorgt werden und wie sich dabei der Kontakt mit ihren Eltern gestaltet. In der Psychoanalyse, kritisiert die Autorin, werden zur Konzeptualisierung der Lebenswelt frühgeborener Kinder meist Objektbeziehungstheorien herangezogen, die dem Verständnis reifgeborener Säuglinge dienen. Vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theorien zu »psychisch unrepräsentierten Zuständen« und mit Hilfe einer bereits publizierten detaillierten psychoanalytischen Säuglingsbeobachtung eines extrem kleinen Frühgeborenen (Geburtsgewicht < 1.000 g) unternimmt sie den Versuch, sich dem vorzeitigen postnatalen Lebensbeginn anzunähern: Er ist geprägt von den Anpassungsschwierigkeiten des unreifen frühgeborenen Kindes an die extrauterine, nun medizinisch-technisch dominierte Umgebung, von seiner Unintegriertheit und der existentiellen Bedrohtheit seines Lebens. Im Verlauf der ersten postnatalen Lebenswochen werden Beginne seiner Objektbezogenheit erahnbar. Abschließend diskutiert die Autorin, wie sich Konzepte und Theorien »psychisch unrepräsentierter Zustände« und analytische Beobachtungen Frühgeborener – auch wenn regressive Zustände Erwachsener nicht mit frühkindlichem Erleben gleichsetzbar sind – gegenseitig befruchten können. Mithilfe der Konzepte namenloser Zustände lassen sich Folgen eines Ereignisses erahnen, in dem das erst im Entstehen begriffene, gänzlich unintegrierte Sein im Mutterleib unterbrochen wurde. Erfahrungen mit frühgeborenen Kindern wiederum helfen im analytischen Prozess, auf sensuell-somatische Empfindungen aufmerksam zu sein, Patienten und Patientinnen auf einer frühen Ebene zu »halten«, intuitiv Konstruktionen zuvor psychisch unrepräsentierter Zustände zu entwerfen und Narrative der postnatalen Lebenssituation ehemaliger Frühgeborener zu entwickeln.

Summary
Today, every tenth child worldwide is born prematurely, i. e. before the end of the 37th week of pregnancy. With intensive medical care, premature babies can survive from the 22nd week of pregnancy. It is described how premature babies are cared for in neonatal intensive care units (NICU) and how the contact with their parents is handled. The author criticises the fact that in the conceptualisation of the lifeworld of premature babies, psychoanalysis draws on object relations theories that have been developed to understand mature babies. Against the background of psychoanalytical theories on »unrepresented states« and with the help of a previously published detailed psychoanalytical Infant Observation of an extremely low birth weight infant (< 1.000 g), she attempts to approach the premature postnatal beginning of life. This life is characterised by the difficulties of the premature infant to adapt to the extrauterine, now medically and technically dominated environment, by its lack of integration and by the existential threat to its life. The first postnatal weeks of life offer a glimpse of the infant’s object-relatedness. Finally, the author discusses how concepts and theories of »unrepresented states« and Infant Observation of premature babies can mutually fertilise each other – even if regressive states in adults cannot be equated with early childhood experience. With the help of the concepts of nameless states, it is possible to grasp the consequences of an event that interrupts the gestation process of a completely unintegrated being in the womb. In turn, experiences with Infant Observation of premature babies help in the analytical process to be attentive to sensory-somatic sensations, to »hold« patients at an early level, to intuitively arrive at constructions of previously unrepresented states and to develop narratives of the postnatal life situation of patients who were born prematurely.

 

Florence Guignard (Chandolin): Entwicklung der Sexualität und Konstruktion des Selbst bei den heutigen Jugendlichen

Zusammenfassung
Körper und Geist sind vom intrauterinen Leben bis zum Tod in einer sich ständig verändernden Funktionsweise miteinander verbunden, um ein kohärentes Gefühl der Identität zu erlangen und ein Leben lang aufrechtzuerhalten. Die Entwicklung der psychischen Sexualität und die Konstitution des Selbst sind die Vorder- und Rückseite desselben Prozesses: der Selbstwerdung (individuation) des Subjekts. An den Grenzen zwischen Selbst und Objekt ist die Erfahrung des eigenen Körpers die erste Situation der Intimität, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, in einem Übergangsraum (Winnicott). Mit der Pubertät werden die Grenzen des psychosomatischen Raums der Intimität tiefgreifend desorganisiert; die Identitätskohärenz wird besonders verletzlich. Die Jugendlichen von heute sind darüber hinaus mit tiefgreifenden gesellschaftlichen und familiären Veränderungen konfrontiert. Was denkt der Psychoanalytiker angesichts dieser komplexen Situation, und was kann er vorschlagen, um diesen Heranwachsenden zu helfen, ihr Unwohlsein in Entwicklungschancen umzuwandeln?

Summary
Body and mind are linked together from intra-uterine life until death, in a process that is constantly changing, in order to acquire and maintain a coherent sense of identity throughout life. The development of psychic sexuality and the construction of the Self are the obverse and reverse sides of the same process: the individuation of the subject. At the limits of the Self and the object, the experience of one’s own body is the first situation of intimacy, not only external, but also internal, in a transitional space (Winnicott). With puberty, the boundaries of the psychosomatic space of intimacy are profoundly disrupted, and the coherence of identity becomes particularly vulnerable. Today’s adolescents are also confronted with profound societal and family changes. Faced with this complex situation, what does the psychoanalyst think, and what can he or she suggest to help these adolescents transform their malaise into opportunities for development?

 

Vitaly Zimin (Moskau): Verwandlungsphantasien und Metamorphosen der Realität: Ist es möglich, einen fremden Traum zu träumen?

Zusammenfassung
In der vorliegenden Arbeit untersucht der Autor den Einfluss projektiver Identifikation auf unsere Wahrnehmung der Realität. Eine Verwandlungsphantasie kann so machtvoll und einnehmend sein, dass sie zu veränderter Realitätswahrnehmung führt: zum Verschwimmen und Verschieben der Grenzen äußerer und innerer Wirklichkeiten, zu veränderter Struktur psychischer Realität und dem Verbleichen der Unterschiede zwischen Ich und innerem Objekt. Der Autor betrachtet, bezugnehmend auf Arbeiten von Freud, Bakhtin und Canetti, diese Phantasie als Ausdruck animistischer Zustände der Psyche und versucht, ihre vielzähligen Repräsentationen in unserer Kultur nachzuverfolgen. Wir leben heute in einem »neo-animistischen« Zeitalter der »digitalen Magie«, in dem die Entwicklung der wissenschaftlichen Idee paradoxerweise zu einer Wiedergeburt animistischer Vorstellungen geführt hat. Moderne Technologien erlauben es, virtuelle Räume einer »Cyberrealität« zu erschaffen, in denen Verwandlungsphantasien umgesetzt werden können. Der Autor führt Experimente im Bereich der virtuellen Realität an, bei denen mit der Illusion eines Körpertausches gespielt wird. Er bezieht sich dabei auf Solms’ Betrachtungen neuroanatomischer Repräsentationen des Körpers. Wenn jemand in seiner Kindheit folie à deux-Phänomenen ausgesetzt war, bleibt seine Psyche vulnerabel und entwickelt eher Derealisations- und Depersonalisationsphänomene. Im klinischen Teil der Arbeit bringt der Autor zwei Fallbeispiele hierfür. Seine Patienten erlebten in ihren Träumen ein solches Maß an Depersonalisation, dass sie den Eindruck hatten, einen fremden Traum zu träumen.

Summary
In this paper the author explores the influence of projective identification on the experience of reality. A phantasy of transformation can be so powerful and capturing, that it leads to changes in the perception of reality: erosion and confusion of boundaries between external and internal realities, alterations in the structure of psychic reality, blurring the distinctions between self and internal object. The author, referring to the work of Freud, Bakhtin, Canetti and others, considers this phantasy to be a reflection of animistic states of mind and traces its multiple representations through our culture. Today we live in a »neo-animistic« world with »digital magic« where the progression of scientific thinking has led paradoxically to a revival of animism. Modern technology assembles dream-like spaces which give new opportunities for phantasies of transformation to manifest. The author invokes experiments on »illusionary body swaping« in virtual reality. He also refers to Solms’ contemplations on neuroanatomic representations of the body. In cases where a person experienced folie à deux in their childhood, their psyche could remain vulnerable to the development of derealization and depersonalization. In the clinical part of this article, the author offers two case examples. The patients experienced such a degree of depersonalization in their dreams that subjectively they felt as if they were dreaming someone else’s dream.

 

Udo Hock (Berlin): Vorstellung – Darstellung – Entstellung. Eine Relektüre Freuds

Zusammenfassung
Udo Hock entfaltet einen konzeptuellen Dreischritt innerhalb des Freud’schen Werkes, dem bisher in der Literatur wenig Beachtung geschenkt wurde: Vorstellung – Darstellung – Entstellung. In einem ersten Schritt unterscheidet er sorgfältig zwischen einer bewussten und einer unbewussten Vorstellung entlang von vier Aspekten: innen/außen, Inhalt/Form, subjektiv/objektiv, verständlich/unverständlich. Während die bewusste Vorstellung definitionsgemäß auf der Differenz zwischen innen (Vorstellung) und außen (Wahrnehmung) beruht, transzendiert die unbewusste Vorstellung diesen Gegensatz. Wie insbesondere der halluzinatorische Charakter des Traumes zeigt, haben wir es in der Psychoanalyse mit einer dritten Realitätsebene zu tun: der psychischen Realität, die sich weder auf die materielle Realität (Außenwelt) noch auf die psychologische Realität (Innenwelt) reduzieren lässt. Dies gilt in ähnlicher Weise für den Gegensatz zwischen Inhalt und Form sowie zwischen subjektiv und objektiv. Für die bewusste Vorstellung ist sicherlich entscheidend, dass ein Inhalt subjektiv vorgestellt wird, für die Bestimmung der unbewussten Vorstellung sind die genannten Paare hingegen unangemessen. Gerade deshalb erscheinen die unbewussten Vorstellungen zunächst einmal unverständlich und rätselhaft. In einem zweiten Schritt entwickelt Hock den Gedanken von der Ubiquität der Darstellung im Freud’schen Werk. Was zunächst als ein Spezialproblem der Traumdeutungin Erscheinung tritt (Wie lassen sich Traumgedanken visuell darstellen?), das unter der Vokabel »Darstellbarkeit« insbesondere in Frankreich heftige Diskussionen ausgelöst hat, erweist sich als eine generelle Frage: Wie tritt das Unbewusste in Erscheinung? »In den verschiedenen Formen von Entstellung«, lautet die Antwort im dritten Teil der Arbeit. Hock definiert sie als universelles Kennzeichen dafür, dass sich das Unbewusste in unser bewusstes Leben einmischt. Er fasst die verschiedenen Erscheinungsformen des Unbewussten unter der Bezeichnung »Klinik der Entstellung« zusammen und führt aus, welch überragenden Stellenwert die Entstellung sowohl für die Metapsychologie als auch für die Technik der Psychoanalyse innehat.

Summary
Udo Hock discovers a conceptual triad within Freud’s work, which has received little attention in the literature thus far: representation (Vorstellung) – presentation (Darstellung) – mispresentation (Entstellung). In a first step, based on four aspects he carefully distinguishes between conscious and unconscious representation: inside/outside, content/form, subjective/objective, understandable/ incomprehensible. While the conscious representation is found in the difference between inside (representation) and outside (perception), the unconscious representation transcends this opposition. As the hallucinatory character of the dream singularly illustrates, we are dealing in psychoanalysis with a third level of reality: the psychic reality, which is neither a material reality (outer world) nor a psychological reality (inner world). This applies similarly to the contrast between content and form as well as between subjective and objective. For the conscious representation it is certainly essential that a content is subjectively imagined, but for the comprehension of the unconscious representation the aforementioned binaries are inappropriate. This is precisely why the unconscious representation initially seems incomprehensible and mysterious. In a second step, Hock develops the idea of the ubiquity of presentation (Darstellung) in Freud’s work. What first appears as a special problem in The Interpretation of Dreams (How can dream thoughts be presented or figured visually?) which has triggered particularly fierce discussions in France, proves to be a rather general question: How does the unconscious become apparent? »In the different forms of mispresentation« is the answer in the third part of the text. Hock defines the »Entstellung« as a universal indicator of unconscious interference with our conscious life. He collocates various manifestations of the unconscious in a Clinic of Mispresentation and explains the intrinsic importance of this concept for both metapsychology and the technique of psychoanalysis.