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Abstracts Heft 2/2023

Redaktionelles Vorwort

Jorge Bruce (Lima): Zur Unzeit

Zusammenfassung
Dieser Artikel befasst sich mit der Problematik der Identität der Psychoanalyse und ihres Korpus an Konzepten und Techniken, wenn sie von der entwickelten Welt in die Länder mit einer von der Kolonialisierung geprägten Geschichte und Struktur wandert. Können wir als Psychoanalytiker in Lateinamerika arbeiten, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass wir uns nicht in den großen Hauptstädten der ersten Welt befinden? Sind wir mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert? Müssen wir extreme Mängel im Kern unserer Gesellschaften berücksichtigen, wie Rassismus, Gewalt, Diskriminierung von LGBTQ+-Gruppen? Erfordert dieser große Unterschied im Kontext und sogar in den Pathologien eine neue Ausarbeitung unserer Instrumente? Sollten wir unseren Ansatz nicht ändern, um diesem radikalen Wandel des Umfelds Rechnung zu tragen? Nicht zuletzt können wir in der Klinik, die mit unserer besonderen sozialen Realität verbunden ist, einen Weg finden, um diese grundlegenden Herausforderungen anzugehen.

Summary
This paper is focused on the problematic of the identity of psychoanalysis and its corpus of concepts and techniques, when it travels from the developed world to countries with a history and structure signed by colonization. Can we continue to work as psychoanalysts in Latin America disregarding the fact that we are no longer in the great capitals of the first world? Are we facing the same challenges? Do we need to take in consideration extreme flaws, in the core of our societies, as racism, violence, discrimination against LGBTQ+ groups? Does this huge difference of context and even pathologies, demand a new elaboration of our instruments? Shouldn’t we transform our approach in order to acknowledge this radical change of setting? Last but not least, it is in the clinic connected with our particular social reality that we can find a way to address these fundamental challenges.

 
Sverre Varvin (Oslo): Die Psychoanalyse und die dritte Position: soziale Umwälzungen und Gräueltaten

Zusammenfassung
Viele Situationen sind in der heutigen Zeit durch einen Zusammenbruch von Ordnung und Struktur gekennzeichnet, der viele Menschen der Gefahr unorganisierter Kräfte (Kriegsmaschinerie, Menschenhändler usw.) aussetzt. Die Entmenschlichung gewöhnlicher Menschen erfolgt massenhaft, insbesondere im Flüchtlingswesen. Dieser Aufsatz zeigt auf, wie entfremdende Diskurse über das »Trauma« und die Vernachlässigung traumatisierter Menschen durch die Gesellschaft das Leid vergrößern und schwerwiegende Folgen für kommende Generationen haben. Es wird reflektiert, auf welche Weise die Psychoanalyse eine vermittelnde Funktion gegenüber regressiven Prozessen auf individueller, gruppenbezogener und gesellschaftlicher Ebene einnehmen kann. Es wird die Konzeptualisierung einer dritten Position entwickelt, von der aus die Psychoanalyse arbeiten kann. Die dritte Position wird als unvermeidlich für die psychoanalytische klinische Arbeit angesehen, da die Symbolisierung und die Arbeit in einem gemeinsamen kulturellen Diskurs verankert sein müssen. Es wird ein Modell zum Überdenken von Traumatisierung vorgeschlagen, das die Konzeption der dritten Position in Bezug auf ein breiteres Feld entwickelt und die Beziehungen des Subjekts in einer dyadischen, körperlich-affektiven Beziehung, in Bezug auf die Gruppe und die Familie und in Bezug auf die Kultur und den Diskurs einbezieht. Dieses Modell kann die Grundlage eines Verständnisses dafür bilden, wie Gräueltaten, soziale Katastrophen und kollektive Traumatisierungen auf individueller und sozialer Ebene verarbeitet werden können. Klinische Beispiele werden vorgestellt, um diese Prozesse zu beleuchten.

Summary
Many situations are now characterized by breakdown of order and structure leaving people at the peril of unorganized forces (war-machines, human traffickers etc.) with dehumanizing of ordinary people on a mass-scale as consequence, especially in the refugee field. The paper focuses how alienating discourses on »trauma« and societies neglect of traumatized people increases suffering and have grave consequences for coming generations. It is reflected on which ways psychoanalysis may represent a mediating function in relation to regressive processes on individual, group, and societal levels. A conceptualization of a third position from which psychoanalysis can work is developed. The third position is seen as inevitable in psychoanalytic clinical work in that symbolization and working though must be anchored in a common cultural discourse. A model for rethinking traumatization is proposed that develops the conception of the third position in relations to a broader field and encompasses the subject’s relations in a dyadic, bodily-affective relation, in relations to the group and family, and in relation to culture and discourse. This model may lay ground for an under standing of how atrocities, social catastrophes like collective traumatization can be worked through on individual and social levels. Clinical examples are presented to illuminate these processes.


Brigitte Eoche-Duval (Nantes): Einige Gedanken zum Begriff der Nachträglichkeit im Werk von Jean Laplanche

Zusammenfassung
Der Après-Coup ist ein Konzept, das von Jean Laplanche in seinem Buch Problématiques VI theoretisch untersucht wird und vom Freud’schen Konzept der Nachträglichkeit ausgeht. Laplanche führt der Après-coup in die Verführungstheorie ein, die Freud 1896 aufgegeben hatte, und in die Übersetzungstheorie der Verdrängung. Für ihn wird der Mensch psychologisch durch die ursprüngliche Beziehung zum Anderen erschaffen, der ihm mittels Körperpflege rätselhafte Botschaften einpflanzt, die während seines ganzen Lebens übersetzt werden müssen. Die analytische Übertragung ist also die Wiedereröffnung der ursprünglichen Beziehung der Verführung, insofern die Abwehr und die Neutralität des Analytikers dem Analysanden erlauben, neue und beste Übersetzungen von den Rätseln seines kindlichen Lebens zu finden. Der Après-Coup ist als ein Übersetzungs- und Transformationsprozess vom analytischen Prozess, und als ein subjektiver Prozess, von einer grundlegenden Beziehung zum Anderen nicht zu trennen.

Summary
The après-coup is a concept theoretically explored by Jean Laplanche in his book Problématiques VI (2006), which starts from the Freudian concept of Nachräglichkeit. He (Laplanche) introduces the après-coup into the theory of seduction, which Freud had abandoned in 1896, and into the translation theory of repression. For him, the human being is psychologically created through the original relationship with the Other, who implants in him, by means of bodily care, enigmatic messages that must be translated throughout his life. The analytic transference is thus the reopening of the original relationship of seduction, insofar as the defence and neutrality of the analyst allow the analysand to find new and best translations from the enigmas of his infantile life. The après-coup, as a process of translation and transformation, cannot be separated from the analytic process, and as a subjective process from a fundamental relationship with the Other.


Brigitte Trimper (Leipzig): Sie wollte Latein und Geschichte studieren – Leben und Werk Therese Benedeks

Zusammenfassung
Dieser Vortrag gibt einen Überblick über Leben und Werk von Therese Benedek, deren Namen das Sächsische Institut für Psychoanalyse in Leipzig trägt. Markiert von den Ereignissen des Ersten Weltkrieges und als Jüdin erlebte sie gravierende Umbrüche in Europa, bevor sie sich etwa 1920 in Leipzig niederließ. Außer ihrer therapeutischen Tätigkeit hatte sie einen großen Anteil an der Gründung eines psychoanalytischen Arbeitskreises in Leipzig. Während ihrer Tätigkeit in Leipzig wurde sie darüber hinaus Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) in Berlin. Infolge der Judenverfolgung sah sie sich 1936 gezwungen, zusammen mit ihrer Familie in die USA zu emigrieren.

Summary
The intention of the lecture is to give an overview of the life and work of Therese Benedek, the name of her is bearing the name of the Saxony Institute of Psychoanalysis in Leipzig. Marked by the events of the 1st World War and as Jewess she was going through different serious stages in Europe before she practiced in Leipzig around 1920. In addition to her therapeutic activity she had a large proportion of establishing a psychoanalytic working group in Leipzig. During her work in Leipzig she was also becoming a member of the International Psychoanalytic Association (IPA) in Berlin. Due to persecution of Jews she felt impelled together with her family to emigrate to US in 1936.


Arndt Ludwig (Zwickau): Von der Wiederannäherung an Therese Benedek bis zur Namensgebung des Sächsischen Institutes für Psychoanalyse und Psychotherapie nach zwei deutschen Diktaturen

Zusammenfassung
Der Autor war als langjähriger Vorsitzender des Sächsischen Institutes für Psychoanalyse und Psychotherapie maßgeblich an der Wiederannäherung an die jüdische Psychoanalytikerin Therese Benedek und an dem Prozess der Namensgebung beteiligt. In einem Abriss wird der leidvolle, steinige und von Brüchen gekennzeichnete Weg der Psychoanalyse in Leipzig, der eng mit dem Wirken von Therese Benedek verbunden ist, beschrieben. Die durch sie strukturierte analytische, von der IPA anerkannte Gruppe löste sich mit Beginn der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf. Benedek emigrierte in die USA. Der Niedergang der Psychoanalyse in Leipzig in zwei deutschen Diktaturen und ihr zaghaftes Aufkeimen am Ende der DDR werden beschrieben. Unmittelbar nach dem Mauerfall wurde das erste und einzige analytische Institut der DDR in Leipzig gegründet. Ein vorsichtiger, schambesetzter Prozess der Auseinandersetzung mit den Wurzeln der Psychoanalyse in Leipzig und der Wiederannäherung an Therese Benedek und ihre Familie fand seinen vorläufigen Höhepunkt, als das Institut 2012 ihren Namen erhielt.

Summary
The author, as a long-standing chairman of the Saxonian Institute for Psychoanalysis and Psychotherapy, was significantly involved in the reproachment to the Jewish psychoanalyst Therese Benedek and the process of renaming the institute. An outline describes the sorrowful, hard and fractured way to psychoanalysis in Leipzig which is closely linked to Therese Benedek. The psychoanalytical group, structured by her and recognized by the IPA, dissolved with the beginning of the takeover by the National Socialists. Benedek emigrated to the USA. The description includes the decline of psychoanalysis in Leipzig during two German dictatorships and its timid way back to life at the end of the DDR. Immediately after the fall of the Berlin Wall, the first analytical institute of the DDR was founded in Leipzig. A cautious and shame-ridden process to investigate the roots of psychoanalysis in Leipzig in reapproaching Therese Benedek and her family found its preliminary high point in the renaming of the institute in 2012.


Claudia Frank (Stuttgart): »Wenn Wissen schädlich ist« – Zum Furor sanandi in Zeiten von Covid-19

Zusammenfassung
Ihre Erfahrungen während der ersten Monate der Covid-19-Krise reflektierend legt die Autorin dar, wie in Übertragung und Gegenübertragung frühe Ängste in einer Weise aktualisiert werden konnten, für die sich innere Figuren ›anboten‹ – und für eine Zeitlang die Situation dominieren konnten –, die ihre alternativlose Sicht des zur ›Rettung‹ Gebotenen mit viel Druck durchzusetzen suchten. Sie konzeptualisiert diese Figur als ein pathologisches Über-Ich, das mit ›therapeutischem Eifer‹, einem Furor sanandi, agiert und damit ein ›schädliches Wissen‹ propagiert. Es wird gezeigt, wie es ggf. eines guten Stücks innerer Arbeit in der Gegenübertragung bedurfte, um sich wieder zu orientieren und zu untersuchen, mit welchen Realitäten man es zu tun hatte. Sie bettet ihre Erkenntnisse in eine Lesart von Sophokles’ König Ödipus ein, die verdeutlicht, wie Ungewissheit mit dem Druck begegnet wird, sofortiges konkretes ›Wissen‹ zu erlangen, so dass die von ›Orakeln‹ gegebenen Orientierungen, die sich in einem inneren Prozess entfalten könnten, sich in diese Art von pathologischen Figuren verwandeln. Wenn letztere den Prozess bestimmen, wird ein Teufelskreis unterhalten, in dem man Gefahr läuft – wie Ödipus in Sophokles’ Tragödie – in einer selbstzerstörerischen Katastrophe der einen oder anderen Art zu enden. Das Durcharbeiten – und damit das Containment – primitiver leiblich-seelischer Verzweiflungszustände in der Gegenübertragung und in der Übertragung sei entscheidend, um die Chance auf einen gutartigen Kreislauf zu eröffnen.

Summary
Reflecting on her experiences in analytic practice during the first months of the Covid-19 crisis, the author describes how in transference and counter-transference early fears could be stirred up in a way that inner figures ›offered‹ themselves – and for a time could dominate the situation – who tried to assert their view of what was required for ›salvation‹ with quite some pressure. She conceptualises this figure as a pathological superego, acting with ›therapeutic zeal‹, a furor sanandi, propagating ›injurious knowledge‹. It is shown how it might have taken a good piece of inner work in the counter-transference to reorient oneself and examine the realities one was dealing with. She embeds her findings in a reading of Sophocles’ King Oedipus which highlights how uncertainty is met by pressure to get immediate concrete ›knowledge‹, thus that orientations given by ›oracles‹, which could unfold in an inner process, are turning in that kind of pathological figures. With the latter as the determinant forces of the process, a vicious circle is maintained in which one runs the risk – like Oedipus in Sophocles’ tragedy – of ending up in a self-destructive catastrophe of one kind or another. Working through – and thus containing – primitive bodily-mental desperate states in countertransference and transference seems essential to open up a benign circle instead.