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Abstracts Heft 3/2020

Redaktionelles Vorwort


Jacqueline Girard-Frésard (Genf): Ein sprechender Körper

Zusammenfassung
Der Körper schreit: der Nacken schmerzt, der Kopf steckt in einem Schraubstock, die Schwindelgefühle machen trunken, die Nase ist verstopft, die Haut juckt, sie hat das Gefühl zu ersticken. Um die Schreie ihres Körpers zum Schweigen zu bringen, vermeidet sie Gluten, Laktose, Fett, Zucker und verzichtet auf die Sexualität. Frau O stellt jedem Ausdruck ihres Trieblebens und ihrer Sinnlichkeit so viele Hindernisse in den Weg, dass sie sich viele Jahre lang einfriert und betäubt. Panische Ängste bringen sie in die Analyse.

Summary
The body cries: pain in the neck, the head caught, as it were, in a vice, feelings of vertigo and suffocation, stuffy nose and itchy skin. To shut down the body cries: suppression of gluten, lactose, fat, sugar and sexuality. Mrs O put a breake at her pulsating and sensorial life, she froze herself for long years. It was her panic fear that brought her to psychoanalysis.


Laura Ezquerra (Madrid): Der Körper als Übermittler unseres kulturellen Erbes

Zusammenfassung
Ausgehend vom Trieb (Freud, 1915c) und dem von Freud beschriebenen Ich, das »vor allem ein körperliches« ist (Freud, 1923b, S. 253), zielt dieser Text darauf ab, die Reflexion über den Körper als Überträger unseres kulturellen Erbes zu vertiefen, d. h. die Autorin versucht, dem Austausch zwischen dem sozialen Becken und der Kultur, in welcher der Körper nistet, auf den Grund zu gehen. Im Zusammenhang mit Spanien und dem, was als zutiefst spanisch empfunden wird, ist El Duende, der Dämon (Kobold), aus dem sozialen Imaginären nicht wegzudenken, wobei dieser Dämon aufs Engste mit Kunst, Musik und dem Flamencotanz verbunden ist. El Duende als Teil des sozialen Imaginären, mit dem der spanische Schriftsteller Federico García Lorca (1933) sich beschäftigt hat, verweist auf den kreativen Prozess im Körper und nimmt durch den Körper Gestalt an. Im vom geheimnisvollen Dämon beseelten Zustand verschwimmen die Grenzen zwischen dem Ich und dem Objekt. Die Autorin betont, dass es für Begriffe wie El Duende keine Übersetzung in andere Sprachen gibt. Sie schlägt vor, im Rahmen der folgenden Hypothese zu denken: dass wir durch den Körper den Trieb im Echoraum der Geschichte wiederfinden – einen Trieb, der insbesondere vom transgenerationellen, kulturellen und sozialen Erbe geprägt ist und weitergetragen wird. Die zeitliche Abfolge von Körpern und ihre Gegenüberstellung erschafft Kultur, da jeder Körper immer auch eine eigene Kultur darstellt. Ebenso wie die Konstruktionen in der Psychoanalyse die Psyche erschaffen und ihr Konsistenz sowie Umriss verleihen, sind auch die Körper dazu in der Lage, Repräsentationen zu erschaffen und dadurch wesentlich zur Psychisierung beizutragen. In diesem Sinne kann man sagen, dass der Körper Sinn und Bedeutung stiftet und Übermittler einer Botschaft ist, wodurch er zum Protagonisten in einem Prozess wird, in dessen Verlauf wichtige Verbindungen hergestellt und Gefühle bzw. Emotionen ins Leben gerufen werden.

Summary
Starting from the drive (Freud, 1915c) and the »Ego first and foremost bodily« described by Freud (1923), this reflection aims to deepen the body as a transmitter of our cultural heritage. In other words, the author attempts to delve into the articulation between the social basin and culture, where the body nests. In Spain and its reference to what is profoundly Spanish, El Duende of the social imaginary is inevitably linked to art, music and flamenco music. El Duende of the social imaginary captured by our writer Federico García Lorca (1933) alludes to the creative process in the body and takes shape through the body. In the regions of El Duende, the boundaries of the Ego with those of the Object are almost blurred. The author underlines that there is no translation into other languages for concepts like El Duende. She proposes to think in the following hypothesis: the echoes of the drive with history, returning through those bodies; a drive dyed of the transgenerational, the cultural and the social. The impossibility of translating a language linked to the body, may witness the passage from body to body within a certain culture. The succession in the time of bodies and their juxtaposition weaves culture, a body is always a culture. As the constructions in psychoanalysis weave and create psyche, they also build representations and psychization. Here the body creates sense, carries a message, it is the protagonist of the creation of links and emotions.


Daru Huppert (Wien): Das Geschlecht, der Blick und die Scham – Phylogenetische Beiträge zur Klinik der Körperscham

Zusammenfassung
Die Scham ist zu einem zentralen Thema der Psychoanalyse geworden. Dennoch hat die Scham einen schlechten Ruf; im Vergleich zum Schuldgefühl gilt sie als minder. Mit dieser Wertung wird die Einsicht in den polymorphen Charakter unseres unbewussten Morallebens verspielt. Im Aufsatz werden die Arbeiten von Piers, Kohut und Steiner dargelegt, deren Theorien zwar allgemeine Charakteristika der Scham erfassen, aber nur wenig Licht auf die Körperscham werfen. Um der Körperscham auf die Spur zu kommen, greift der Autor auf Freuds Phylogenese zurück, welche für die Klinik unverzichtbare Dienste leistet. Im letzten Teil des Aufsatzes wird untersucht, wie die Körperscham auf ein unbewusstes und zusammengesetztes Körperbild ausgeht – das Schamgebilde. Dieses Gebilde gilt es in der Behandlung aufzulösen.

Summary
Shame has become a central topic of psychoanalysis. Nevertheless shame has a bad reputation and is regarded as being of lesser value than guilt. This judgement forecloses insight into the polymorphous character of our unconscious moral lives. The essay discusses the theoretical elaborations of Piers, Kohut and Steiner on shame. While the insights of these authors are found to reveal much about shame’s general characteristics, they shed little light on bodily shame. To trace bodily shame the author uses Freud’s phylogenetic theory, which is of indispensable value for the clinic. In the last part of the essay bodily shame is found to emerge from an unconscious and composite body image – the shame formation. The task of psychoanalytic treatment is to dissolve this formation.


Andreas Saurer (Genf): Ideologisches Klima, psychisches Funktionieren und politische Einstellung

Zusammenfassung
Das ideologische Klima ist ein Teil der sinnproduzierenden Systeme, die meist unbewusst auf uns einwirken. Um die Grunddynamik der Geschichte zu verstehen, muss man die Langzeitphänomene berücksichtigen und die Komplexität der Dialektik zwischen wirtschaftlichen, sozio-psychologischen und ideologischen Bedingungen analysieren. Die psychoanalytische Erklärung der historischen Ereignisse durch den Todestrieb und die Führer-Masse-Dynamik berücksichtigt diese Komplexität nicht genügend. Das individuelle Über-Ich steht in einer Wechselbeziehung mit dem Kultur-Über-Ich, welches im Übergangsraum von Winnicott oder im vierten Raum von Kaës lokalisiert werden kann. Anhand zweier klinischer Vignetten wird die beschützende Funktion des ideologischen Klimas illustriert, gefolgt von einem Beispiel der zerstörenden Funktion anhand der Nazi-Ideologie. Am Schluss wird die Frage aufgeworfen, ob nicht ein tendenziell nichtneurotisches Funktionieren mit einer gesunden Kapazität für Trauerarbeit und Toleranz für Alterität eine Hauptvoraussetzung ist für die Fähigkeit zur Kritik, ohne dem Totalitarismus zu verfallen.

Summary
The ideological climate is a part of the sense-producing systems, most of which affect us unconsciously. In order to understand the basic dynamics of history, it is necessary to consider the long-term phenomena and analyse the complexity of the dialectic between the economic, socio-psychological and ideological conditions. The psychoanalytical explanation of historical events by the death instinct and the leader-mass dynamic does not take this complexity sufficiently into account. The individual superego is interrelated with the cultural superego, which can be located in the transitional space of Winnicott or in the 4th space of Kaës. Two clinical vignettes illustrate the protective function of the ideological climate, followed by an example of the destructive function based on Nazi ideology. Finally, the question is raised whether a non-neurotic function with a healthy capacity for mourning and tolerance for alterity is not a major prerequisite for the ability to criticise without falling prey to totalitarianism.


Siegfried Zepf & Dietmar Seel (Saarbrücken): Psychoanalytische Praxis und politische Ökonomie

Zusammenfassung
Aus der Perspektive der Marx’schen Warenanalyse fragen die Autoren nach den Konsequenzen, die sich aus der ökonomischen Situation der Psychoanalytiker für den Umgang mit der Psychoanalyse ergeben. Es zeigt sich, dass u. a. die Suspendierung der Wahrheitsfrage, die Toleranz gegenüber sich ausschließenden Konzepten, das Fehlen begriffskritischer Auseinandersetzungen sowie der Verzicht auf sozialkritische Fragestellungen dem vorrangigen Interesse an der Realisierung des Tauschwerts und der damit einhergehenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Gebrauchswert psychoanalytischer Behandlungen geschuldet sind.

Summary
Placed in the perspective of Marxian commodity analysis the authors examine the consequences for psychoanalysis resulting from the economic situation of psychoanalysts. Seen in this perspective, among other issues the suspension of the question of truth, the tolerance of contradictory concepts, the lack of conceptual criticism and the abandonment of socio-critical issues is due to the primary interest in the exchange-value realisation and the accompanying indifference to the use-value of psychoanalytic treatments.


Eva Presslich-Titscher (Wien): Gedanken zu Supervision in Aus- und Weiterbildung

Zusammenfassung
Ausgehend von einer Supervision mit Hanna Segal wird die Bedeutung von Supervision, speziell für die Behandlung früh gestörter Patienten, thematisiert. Analytische Therapien fordern die ganze Person des Therapeuten und dementsprechend seine Bereitschaft, in der Supervision auch innere Prozesse preiszugeben. Dafür braucht es einen sicheren und vertrauensvollen Rahmen. Das gilt besonders für die Ausbildungssupervision. Psychoanalyse passt aus vielen Gründen nicht zum Zeitgeist. Heute werden alle Lebensbereiche an ökonomischen Prinzipien ausgerichtet, und daher werden auch von der Psychoanalyse Evidenz und Effizienz gefordert. Ob allerdings Beurteilen und Bewerten mit dem vertrauensvollen Rahmen, in dem Supervision stattfindet, vereinbar ist, wird problematisiert. Thema ist auch, wie die in unserer heutigen Leistungsgesellschaft für alle Lernprozesse geforderte Evaluation die psychoanalytische Ausbildung insgesamt verändert.

Summary
Based on a supervision with Hanna Segal, the importance of supervision, especially for the treatment of patients with early disorders, is discussed. Analytical therapies demand the whole person of the therapist and his willingness to reveal inner processes in supervision. This requires a secure and trustworthy framework, especially for training supervision. For many reasons, psychoanalysis does not fit in with the prevailing zeitgeist. Today, all areas of life are oriented towards economic principles and therefore evidence and efficiency are required by psychoanalysis, too. However, it is called into question whether judging and evaluating is compatible with the trusting framework in which supervision takes place. Another topic is how evaluation required for all learning processes in today’s performance oriented society is changing the overall training in psychoanalysis.