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Abstracts Heft 3/2023

Redaktionelles Vorwort

Daru Huppert (Wien): Überleben und Zerstörung in Winnicotts Verwendung des Objekts

Zusammenfassung
Winnicotts The Use of an Object ist seine bedeutendste und innovativste Untersuchung der Aggression. Mein Aufsatz versucht die innere Dynamik seiner Argumentation nachzuzeichnen, um zu klären, was Winnicott mit Destruktion meint. Sein Ansatz eröffnet unverzichtbare und bislang unbeachtete Perspektiven auf das Thema der Aggression. Aber seine Ideen sind auch irreführend. Als Korrektiv versuche ich Winnicotts Ideen innerhalb von Freuds Triebtheorie zu verorten und so gleichsam zu schärfen. Damit wird auch Freuds Theorie bereichert.

Summary
Winnicott’s The Use of an Object is his most significant and innovative study of aggression. In my essay I try to trace the inner dynamics of his argument, so as to render explicit, what Winnicott means by destruction. While his ideas open up an indispensable perspective on aggression, they are also misleading. Placing them within Freud’s drive theory, I argue, helps both correct and sharpen Winnicott’s ideas. Thereby Freud’s theory is also enriched.

 

Tjark Kunstreich (Wien): Von Eindrücken und bizarren Objekten. Überlegungen zur psychoanalytischen Theorie und Klinik des massiven Traumas

Zusammenfassung
Anhand der ausführlichen Darstellung eines Behandlungsabschnitts aus einer Analyse, in der sich herausstellt, dass der Analysand aufgrund einer massiven Traumatisierung auf psychotische Abwehren angewiesen ist, diskutiere ich theoretische Konzepte des frühen Freud und Bions. Ihren Konzepten gemeinsam ist die Annahme, dass Verbindungen ge- oder zerstört wurden: zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein, zwischen traumatischem Erlebnis und Erinnerung. Diese Störungen ermöglichen eine Spaltung, in der das traumatische Erlebnis bloßer Eindruck bleibt, aufgrund seiner Giftigkeit eingekapselt werden muss und nur als Fremdkörper erfahren werden kann.

Summary
Based on a detailed presentation of a part of an analysis in which it turns out that the analysand relies on psychotic defences due to a massive traumatization, I discuss some theoretical concepts of early Freud and of Bion. These concepts have in common the assumption that connections have been destroyed or disturbed: between perception and consciousness, between traumatic experience and memory. These disturbances enable a splitting in which the traumatic experience stays a mere effect which must be encapsulated because of its toxicity and can only be experienced as a foreign body.

 

Georges Devereux: Die Psychotherapie-Szene in Euripides’ Bakchen

Zusammenfassung
Der Autor unterzieht die von ihm so genannte »Psychotherapie-Szene« aus Euripides’ Bakchen einer genauen psychiatrisch-psychoanalytischen Betrachtung. Im Zentrum steht die Unterredung Kadmos’ mit seiner Tochter Agaue, die im dionysischen Wahn zusammen mit den thebanischen Frauen ihren eigenen Sohn Pentheus grausam ermordet hat; ein tragisches Geschehen, das sie nach der Psychose zunächst nicht zu erinnern vermag, hält sie doch die Trophäe, den Kopf des Sohnes, zunächst für den eines Berglöwen. Euripides stellt nicht nur die Symptomatik (partielle Amnesie, Dissoziation, Realitätsverleugnung usw.) der »Patientin« Agaue nach der folgenschweren Tat überzeugend dar, sondern vor allem auch ihre erfolgreiche Psychotherapie, die sich dem therapeutischen Geschick Kadmos’ verdankt. Er geleitet seine Tochter von der Verleugnung zur Anerkennung der Realität – d.i. das von ihr begangene Verbrechen – und zur Einsicht in ihren vergangenen Wahnsinn, freilich nicht ohne ein Ringen mit den Widerständen der Patientin. Die Szene bildet ein Musterstück griechischer Psychotherapie, die einem Vergleich mit jedem modernen psychotherapeutischen Prozess standhält.

Summary
The author subjects what he calls the »psychotherapy scene« from Euripides’ Bacchae to a close psychiatric-psychoanalytical examination. At the centre is Kadmos’ conversation with his daughter Agaue, who, in a Dionysian delusion, has cruelly murdered her own son Pentheus together with the Theban women; a tragic event that she is initially unable to remember after the psychosis, as she at first mistakes the trophy, the son’s head, for that of a mountain lion. Euripides convincingly portrays not only the symptoms (partial amnesia, dissociation, denial of reality, etc.) of the »patient« Agaue after the momentous deed, but above all her successful psychotherapy, which is due to Kadmos’ therapeutic skill. He guides his daughter from denial to recognition of reality – i.e. the crime she committed – and to insight into her past delusions, though not without wrestling with the patient’s resistance. The scene is a model piece of Greek psychotherapy that stands comparison with any modern psychotherapeutic process.

 

Giovanni Vassalli (Zürich): Die Technik der Psychoanalyse im Vergleich mit der griechischen Rhetorik

Zusammenfassung
Die Überlegungen des Aufsatzes sind aus einem Unbehagen über die krisenhaften Entwicklungen der heutigen Psychoanalyse entstanden. Besonders ist auffällig geworden, dass ihre Technik in den Fachzeitschriften der letzten Jahrzehnte immer seltener dargestellt wird. Dieser Ausfall aber weist auf einen Wandel hin, der unsere Disziplin als ganze betrifft, und lässt die Frage nach der methodischen Grundform der Freud’schen Psychoanalyse wieder dringlich werden. Um dafür das Blickfeld zu erweitern, wird die analytische Technik in einen Vergleich mit der griechischen Rhetorik gebracht. Diese kann als frühes Paradigma der Freud’schen Seelenforschung betrachtet werden, da sie auf die griechische téchne zurückgeht, die in ihrem Gebrauch der Sprache gleichfalls als künstlerisches Vorgehen handwerklicher Art angesehen wurde. Freud hat diese Technik in der Traumdeutung mit den acheronta der mythologischen Dichtung verglichen und damit auf die verdrängte Welt des von ihm entdeckten Unbewussten hingewiesen. Für seine Forschung hat er die Methode der Technik als die einzig zuständige ausgewiesen. Die Rhetorik hat jedoch ihre Bedeutung als Kunst im Laufe der Geschichte weitgehend verloren und ist seit dem späten Mittelalter von der neuzeitlichen Technologie durch deren exakte Berechnung und dem Experiment abgelöst worden. Fakten wurden jetzt wichtiger als deutungsbedürftige Symptome. Damit hat sich auch der Stellenwert der Theorie verändert, von der man nun vor allem nützliche Anwendungen erwartet für eine zweckmässige Gestaltung des Lebens. Auf diesen Wandel konnte jedoch die analytische Technik nicht mehr eingehen. Für sie war besonders die Beobachtung des Symptoms entscheidend, dessen Bedeutung durch Vermutungen aufgefunden werden musste und so die Aufdeckung der verdrängten Erinnerungen ermöglichte. Auch in Bezug auf die Sprache, ihr wesentliches Handwerkzeug, kann die Technik nicht mehr nur auf die Formen der modernen Linguistik bezogen werden. Aus den genannten Motiven bietet sich das artisanale Erbe der Rhetorik als frühes Paradigma des analytischen Vorgehens Freuds an. Übereinstimmungen und Differenzen der beiden Techniken vermögen die Originalität der analytischen Methode Freuds einsichtiger werden lassen. Auch wird es vor allem die Technik sein, welche die Zukunft der Psychoanalyse ermöglichen kann.

Summary
The reflections of this essay have arisen from an unease about the crisis-like developments in psychoanalysis today. In particular, it has become noticeable that articles on psychoanalytic technique have become rare in professional journals of recent decades. This failure points to a change affecting our discipline as a whole and questions the basic methodological form of Freudian psychoanalysis rather urgently. In order to broaden the view on this matter, psychoanalytical technique is compared with Greek rhetoric. This can be regarded as an early paradigm of Freuds examination of the human psyche going back to the Greek téchne, which in its use of language was likewise regarded as an artistic procedure of a craft nature. Freud compared this technique in dream interpretation with the acheronta of mythological poetry, thus pointing to the repressed world of the unconscious he had discovered. For his research, he identified the method of technique as the only competent one. However, rhetoric has largely lost its importance as an art in the course of history and since the late Middle Ages has been replaced by modern technology with its exact calculation and experimentation. Facts became more important than symptoms in need of interpretation. This also changed the status of theory, which was now expected to have useful applications for a meaningful life. Psychoanalytical technique could no longer respond to this change. For psychoanalytical technique the observation of the symptom was crucial, the meaning of a symptom had to be found through conjecture in order to uncover repressed memories. With regards to language, the essential tool, technique can no longer be related only to the forms of modern linguistics. Hence the artisanal heritage of rhetoric offers itself as an early paradigm of Freud’s analytical procedure. The similarities and differences between the two techniques help to clarify the originality of Freud’s analytical method. Above all it will be psychoanalytical technique that can facilitate the future of psychoanalysis.