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Abstracts Heft 4/2020

Redaktionelles Vorwort


Rainer Gross (Wien): Psychoanalyse als »Kind der Liebe« von Aufklärung und Romantik

Zusammenfassung
Ausgehend von einer Gegenüberstellung der aufklärerischen und der romantischen Grundhaltung aus Sicht der Ideengeschichte ist es Ziel dieses Textes, die Ursachen für die so seltene Anerkennung und geringe Wertschätzung der romantischen Spuren im Leben und Werk Sigmund Freuds und im analytischen Denken nach ihm zu beleuchten. Die unterschiedlichen Entwicklungen der deutschen und englischen Romantik und die dementsprechend auch divergierenden Rezeptionen durch die Psychoanalyse werden gegenübergestellt, Traditionslinien und aktuelle »romantische« Positionen in der psychoanalytischen Diskussion werden beschrieben. Die Arbeit schließt mit einem Plädoyer für die Akzeptanz sowohl des aufklärerischen als auch des romantischen »Elternteils« der Analyse als fruchtbare Hochzeit von »Mutter Traum und Vater Gedanke« (Bollas, 2009).

Summary
This text tries to find out the reasons for the lack of acknowledgement of romantic influences in Freud’s life and work. Essentials of the attitudes of Enlightenment vs. Romanticism are compared. The different histories of the romantic movements in Germany and England and the therefore diverging reception of romantic thought by psychoanalysts are presented. After an outline of recent »romantic positions« in psychoanalytic thought the paper ends with a plea for acceptance of the enlightened and romantic »parentage« of psychoanalysis as a fertile marriage of »mother dream und father thought« (Bollas, 2009).

 

Johannes Picht (Schliengen): Gibt es das Unheimliche in der Musik?

Zusammenfassung
Freud hatte seinen Begriff des »Unheimlichen« an erzählten und fiktiven Geschichten entwickelt. Soll er auch in der Musik anwendbar sein, so muss er abstrakter gefasst werden, er bezieht sich auf das Behaupten und die Gefährdung von Identität. Der Autor zeigt zunächst, dass das Unheimliche als ästhetische Kategorie das Kennzeichen einer historischen Situation ist, die wir mit dem Begriff der Romantik bezeichnen und die noch nicht überholt ist; sie entsteht mit dem bürgerlichen autonomen Subjekt, dessen individuelle Freiheit jedoch darauf beruht, dass der allgemeinen Vernunft, die es zu vertreten hat, ein Dunkles gegenüber steht. Es werden sodann die Signaturen vorgestellt, die die Musik seit der Renaissance entwickelt hat, um die Identität und Autonomie des neuzeitlichen Subjekts darzustellen. Schließlich wird ein Satz aus einer späten Beethoven-Sonate analysiert, in dem diese Signaturen von innen her angegriffen und mit Vernichtung bedroht werden, woraufhin ihre Affirmation nur mehr mit Gewalt möglich ist. Das neuzeitliche Subjekt ist damit als Fiktion entlarvt, seine gewaltsame Natur ist bloßgelegt.

Summary
Freud had developed his concept of »the Uncanny« drawing on narratives and fiction. If this concept is to be applied to music, it must become more abstract, relating to the assertion and the undermining of identity. The author begins by showing that »the Uncanny« as aesthetic category is linked to a historical situation that we term »romantic« and that is not yet overcome. It is linked to the emergence of the autonomous subject whose individual freedom, however, depends on something dark being opposed to the general rationality it represents. From renaissance onwards, music has developed several signatures to represent identity and autonomy of the subject; these are demonstrated and explained. Following this, a sonata movement by late Beethoven is analyzed to show how these signatures are attacked and threatened by annihilation from within the musical idiom, their affirmation thereafter being brought about only by violence. This music, then, exposes the modern subject as fiction and unmasks its violent nature.

 

Eran Rolnik (Tel Aviv): Freud als Briefeschreiber

Zusammenfassung
Der Essay Freud als Briefeschreiber erschien im Juni 2019 unter dem Titel The Intimate Letters of Sigmund Freud – a Selection of Freud’s Letters to 70 Different Recipients ungekürzt in der israelischen Zeitung Haaretz und stand drei Monate lang als Nr. 1 auf der Non-fiction-Bestsellerliste in Israel. In der Zwiesprache mit Freuds Briefen, die er in sehr persönlicher Auswahl kommentiert, auf ihren politisch-historischen Hintergrund abfragt und ihre wissenschaftliche Perspektive aufzeigt, führt uns der Autor zugleich den Verlust vor Augen, der mit dem fast vollständigen Verschwinden dieser Form der Kommunikation und diesem literarischen Genre einhergeht. Dass Freud insgesamt 30.000 Briefe geschrieben habe, beweise, dass das Briefeschreiben nichtnur für Freuds Beziehungen sehr bedeutsam war, sondern auch im Hinblick auf seine Entdeckungen und das Entstehen der Psychoanalyse höchst fruchtbar wurde, weil in dieser Form die Spannung zwischen seinen positivistischen Ansichten (aspirations) und den poetischen Anteilen seiner Person gefasst werden konnte. Sein Denken und Forschen war für Freud immer auch an einen Adressaten gerichtet.

Summary
The essay The Intimate Letters of Sigmund Freud was published in June 2019 unabridged in the Israeli newspaper Haaretz and was number one on the nonfiction bestseller list in Israel for three months. In dialogue with Freud’s letters, which he comments on in a very personal selection, questions their political and historical background and points out their scientific perspective, the author at the same time shows us the loss that goes hand in hand with the almost complete disappearance of this form of communication and this literary genre. The fact that Freud wrote a total of 30,000 letters proves that letter-writing was not only very important for Freud’s relationships, but also became highly fruitful in terms of his discoveries and the emergence of psychoanalysis, because it was in this form that the tension between his positivist views (aspirations) and the poetic parts of his person could be grasped. For Freud, his thinking and research was always directed to an addressee.

 

Erwin Kaiser (Berlin): Zum Verhältnis von alltagspsychologischen und psychoanalytischen Handlungserklärungen

Zusammenfassung
Es soll die Verbindung von analytischer Philosophie, besonders in Gestalt von Donald Davidson und seinen Auffassungen, und Psychoanalyse dargestellt werden. Die Möglichkeiten und Grenzen dieser Verbindung werden diskutiert. Es geht in erster Linie darum, an den Beitrag von Richard Wollheim zu erinnern. Er hat die Theorie von Handlungserklärungen der analytischen Philosophie auf psychoanalytische Deutungen angewandt. Seine These geht dahin, dass Deutungen Erweiterungen, Vertiefungen und Kontextualisierungen von Handlungserklärungen im Alltag sind. An einem klinischen Beispiel wird diese Sichtweise illustriert.

Summary
The author intends to show the connection between analytical philosophy, especially in the form of Donald Davidson and his views, and psychoanalysis. The possibilities and limits of this connection will be discussed. The main aim is to recall the contribution of Richard Wollheim. He applied the theory of action explanations of analytical philosophy to psychoanalytic interpretations. His thesis is that interpretations are extensions, deepenings and contextualisations of explanations of action in everyday life. This view is illustrated by a clinical example.

 

Andreas Hamburger (Berlin, Kassel, München): Lernen aus Erfahrung. Laudatio auf Prof. Dr. Wolfgang Mertens zur Sigmund-Freud-Vorlesung 2019

Fazit
Wolfgang Mertens hat uns alle in der Weigerung bestärkt, uns in irgendeinen Stuhl zurückzulehnen, und sei es der hinter der Couch, und in Ruhe Bescheid zu wissen. Die Ruhe des scheinbaren Bescheidwissens ist Vorurteil, ist Immunisierung gegen die Erregung von Ärgernis, ist, wie Bion es formuliert hat, Widerstand gegen das Lernen aus Erfahrung. Jetzt freue ich mich auf das, was er aus seinem 40jährigen Tanz mit der Hexe Metapsychologie zu erzählen hat. Kein Wunder, wenn sie etwas zerzaust ist – und auch keines, dass er trotz alledem ihre Schönheit sieht.

 

Wolfgang Mertens (München): Keine Angst vor der reichlich zerzausten Hexe – Plädoyer für eine Erneuerung metapsychologischen Denkens

Zusammenfassung
Im ersten Teil der Arbeit wird ein Überblick über die Metapsychologie-Diskussion gegeben. Unter Metapsychologie verstand Freud bestimmte Gesichtspunkte, die man für das Erschließen und Erraten unbewusster Vorgänge anhand der freien Assoziationen eines Patienten unbedingt benötige, wie die dynamische, ökonomische und topische Koordinate. In den 70er Jahren diagnostizierten US-amerikanische Psychoanalytiker eine »Krise der Metapsychologie«. Seitdem gibt es eine anhaltende Diskussion darüber, ob die Psychoanalyse überhaupt eine Metapsychologie brauche. Im Folgenden wird die These vertreten, dass metapsychologische Betrachtungsweisen, die phänomenale Bewusstseinsdaten transzendieren, weiterhin das Alpha und das Omega der psychoanalytischen Suchprozesse bilden. Denn nur durch sie, also vor allem im Achten auf traumatische Erfahrungen und konflikthafte Konstellationen im Erleben von Wünschen, die sich in verinnerlichten Objektbeziehungen, Introjekten und Identifizierungen, aber auch in der »Arbeit des Negativen« ausdrücken, im Achten auf drängende und vorerst nicht übersetzbare unbewusste mentale Prozesse und im Achten auf den Umgang mit unterschiedlich symbolisierten Affekten und deren Auswirkungen auf das Erleben von sich selbst und anderen Menschen – und natürlich auch darin, wie sich das alles in Beziehungen inszeniert – unterscheidet sich das psychoanalytische Herangehen von einer alltagspsychologischen Erklärung. Anhand einer Vignette wird im zweiten Teil skizzenhaft aufgezeigt, wie sich die klassischen Gesichtspunkte Freuds entsprechend wichtiger Weiterentwicklungen in den zurückliegenden 30 bis 40 Jahren verändert haben. Dabei werden die folgenden fünf Gesichtspunkte zur Sprache kommen: der emotional-kommunikative, dynamische, topische, strukturelle und genetische Gesichtspunkt. Die Erweiterungen der ursprünglichen Formulierungen der metapsychologischen Perspektiven sollen deutlich machen, wie zentral und unverzichtbar für das psychoanalytische Zuhören und Konzeptualisieren diese Gesichtspunkte sind. Die Interpretation der mitgeteilten Erzählungen erfolgt mit Hilfe metapsychologischer Perspektiven, die aus der Weiterentwicklung psychoanalytischer Richtungen entstanden sind und sich in einem lebendigen Fluss von kontinuierlicher Klärung einschlägiger Konzepte mittels des Vergleichens verschiedener Denktraditionen und Richtungen, gelegentlich auch des Abwägens anhand von interdisziplinären Überlegungen befinden.

Summary
The first part of the thesis gives an overview of the metapsychology discussion. By metapsychology, Freud understood certain aspects that are absolutely necessary for opening up and guessing unconscious processes based on the free associations of a patient, such as the dynamic, economic and topical coordinates. In the 1970s, American psychoanalysts diagnosed a »crisis of metapsychology«. Since then, there has been an ongoing discussion about whether psychoanalysis needs metapsychology at all. In the following, the thesis is advanced that metapsychological approaches that transcend phenomenal consciousness data continue to form the alpha and omega of psychoanalytic search processes. For it is only through them, i. e. above all by paying attention to traumatic experiences and conflictual constellations in the experience of desires, which are expressed in internalized object relationships, introjects and identifications, but also in the »work of the negative«, paying attention to urgent and for the time being untranslatable unconscious mental processes and paying attention to the handling of differently symbolized affects and their effects on the experience of oneself and other people – and of course also in how all this is enacted in relationships – the psychoanalytical approach differs from an everyday psychological explanation. In the second part, a vignette is used to outline how Freud’s classical points of view have changed over the past 30 to 40 years to reflect important developments. The following five aspects will be addressed: the emotional-communicative, dynamic, topical, structural and genetic viewpoint. The extensions of the original formulations of the metapsychological perspectives should make clear how central and indispensable these aspects are for psychoanalytic listening and conceptualizing. The interpretation of the communicated narratives is carried out with the help of metapsychological perspectives that have emerged from the further development of psychoanalytic directions and are in a lively flow of continuous clarification of relevant concepts by comparing different traditions of thought and directions, occasionally also weighing them up on the basis of interdisciplinary considerations.